Ingwerkekse für alle

TRANSMEDIALE Im Haus der Kulturen der Welt wurde neun Stunden pausenlos über die schöne neue Technikwelt debattiert. Und dazu gab es Ausschnitte eines 1.000 Jahre dauernden algorithmischen Musikstücks zu hören

Die Computerwissenschaft steckt mit ihrer digitalen Binarität immer noch in den Kinderschuhen

VON PATRICIA WEDLER

„There’s no future for you“. (Sex Pistols: „God Save the Queen“)

„Diese Textzeile ,no future‘, die ist prophetisch: Wenn du deine Zukunft nicht selbst in die Hand nimmst, dann wirst du auch keine haben – so einfach ist das“, erklärte John Lydon, besser unter dem Pseudonym Johnny Rotten als Sänger der Sex Pistols bekannt, in einem Interview. Der Musikjournalist Greil Marcus kommentierte den Slogan mit den Worten: „Natürlich konnte Johnny Rotten nicht die Zukunft vorhersagen; er konnte nur darauf beharren, dass sie in der Vergangenheit enthalten war. Das bedeutete „no future“.

„Futurity now!“ lautete dagegen das Motto der diesjährigen Transmediale. Die Zukunft ist das neue Ding. Und die Kinder bringen den Müll raus. Doch hinter dem Slogan steht ähnlich wie bei den Sex Pistols der Versuch, im Rahmen der „Futurity Observatory“-Konferenz entlang digitaler Medien und sozialer Praxis hinter die Konzepte der Zukünftigen zu blicken. Haben sich die Versprechen der Moderne eingelöst? Ist das Unternehmen Zukunft in der Gegenwart angekommen? Wie sehen die Visionen von morgen aus?

Die Pogues sind eine andere berühmte Punk-Band. Jem Finer, eines der Bandmitglieder, hat mit seiner Komposition „Longplayer“, einem algorithmischen Musikstück, das 1.000 Jahre andauert und sich dabei niemals wiederholen wird, die Inspiration für die auf dieser Konferenz geführten „Futurity Long Conversation“ geliefert.

Ähnlich wie die Aufführung dieses Langzeitmusikstücks, das am 31. Dezember 1999 gestartet wurde und ebenfalls auf der Transmediale zu bewundern war, wurde eine neunstündige Diskussion zwischen 21 Künstlern, Designern, Theoretikern, Medienaktivisten und anderen Vertretern der kreativen Klasse angesetzt. In einer 22-minütigen Face-to-Face-Konversation sollten jeweils zwei Teilnehmer über Projekte, Technologien und Utopien diskutieren, die bereits jetzt schon unsere Zukunft bestimmen oder bestimmen werden.

Den Anfang machte der britische Politologe Richard Barbrook, der in seinen Keynotes „Imaginary Futures“ auffächerte, wie die Ideologien der 60er Jahre nicht nur die technologischen Errungenschaften determiniert haben, sondern auch die heutige Gegenwart bestimmen. Der Kalte Krieg und die Vorstellung, die Weltherrschaft sei eine Frage der Technikbeherrschung, legte den Grundstein unserer gegenwärtigen Netzwerkgesellschaft des McLuhan’schen Global Village. „Über die Zukunft zu reden bedeutet, etwas über die Gegenwart zu erzählen. The future is now.“

David Link, Künstler und Professor für Experimentelle Technologien im Kunstkontext in Leipzig, verfolgte mit seinem „Paleo-Futurismus“ einen ähnlichen Ansatz: „Der Blick zurück, ist ein sehr futuristisches Unternehmen.“ Die Elemente der Zukunft liegen in der Vergangenheit, so sei die Suchmaschine Google beispielweise eine Maschine, die ähnlich einem Orakel früherer Zeiten die Fragen beantwortet. Nur mit etwas größerem Wahrheitsgehalt.

Dagegen wirkten die Ausführungen des Zukunftsforschers und Philosophen Alan N. Shapiro über seine Forschungen mit Star-Treck-Technologien wie Zeitreisen oder Teleportation erfrischend visionär. „Der Fehler im Westen bezüglich Zeit ist der Glaube, dass es Zeit in einer objektiven Art und Weise gibt.“ Die Computerwissenschaft stecke mit ihrer digitalen Binarität immer noch in den Kinderschuhen der 70er Jahre fest und schöpfe ihre Möglichkeiten nicht aus.

Im Laufe der nächsten Stunden wurden Postkolonialismus durch Unternehmen und Monopolisierung gestreift, die gesellschaftliche und technologische Situation Indonesiens, über die Veränderung der DNA und neue Spezies nachgedacht, der Walter Benjamin’sche Engel der Geschichte bemüht, über Tanzperformances im Rückgriff auf Tradition der 60er Jahre oder die anstehende Medienkampagne des italienschen Bekleidungsherstellers Benetton gesprochen. Die Versuchsanordnung einer neunstündigen Konversation in Analogie zu Jem Finers „Longplayer“ ist als experimentelles und ästhetisches Format durchaus interessant, in der Ausführung über weite Teile intellektueller und inhaltlicher Leerlauf. Eine Versuchsanordnung, ähnlich einer musikalischen Jamsession, die versuchte, die Gesetze der Kunst auf die Kommunikation zu übertragen.

Das Anschlusspanel „Ideologien und Zukünfte des Internets“ erschöpfte sich ebenfalls stellenweise in Optimismusphrasen und Allgemeinplätzen. Hervorzuheben allerdings sind die Ausführungen Conrad Wolframs, Gründer der Wolfram Research Europe Ltd, der eine neue Form von im Web produzierten Wissens vorstellte. Seine Entwicklung „Wolfram/Alpha“ ist eine intelligente Suchmaschine, die nicht darauf basiert, das Netz lediglich auf Stichworte zu durchsuchen und Treffer anzuzeigen, sondern tatsächlich Antworten auf usergenerierte Fragen zu geben: die Geburt des semantischen Webs.

Digitale Slums

Einen kritischen Kontrapunkt setzt dankenswerterweise Florian Rötzer, Chefredakteur des Online-Magazins Telepolis, der mit seinen Ausführungen die Frage nach Hegemonie und Partizipation in den virtuellen Weiten stellte, auf digitale Slums und Verteilungskämpfe hinweist: „Das Internet ist der Ort, an dem Macht und Eigentum verteidigt werden“. The dark side of the virtual moon. Aber das war eine andere Band.

Die Möglichkeit der Partizipation von Besuchern vermisste man dann auch während der „Long Conversation“. Nachdem dieses Manko Drew Hemment, unter anderem Gründer des FutureEverything-Festivals in Manchester, feststellen musste, verteilte er kurzerhand sein Gingerbread ans Publikum. Gemeinsames Kekseessen als demokratischer Akt – schöne Aussichten.