: Stricken, Freiheit, sich nicht verbiegen
HAUSBESUCH Sie ist Journalistin, er Student – und das Baby fast da. Jacqueline Piwon und Samuel Walter in Erfurt
VON MICHAEL BARTSCH (TEXT) UND SVEN DÖRING (FOTOS)
Thüringens Landeshauptstadt Erfurt. Zu Hause bei Jacqueline Piwon (28) und Samuel Walter (27), sie erwarten gerade ihr erstes Kind.
Draußen: Lückenbebauung im historischen Erfurter Andreasviertel. Zweigeschossiges, schlichtes Haus zwischen teils schiefen, sanierten Häusern, kleine Fenster, nebenan Kneipe mit Biergarten, „die etwas Toleranz braucht“ (Samuel). Unweit die alte Universität, der Domplatz mit dem Domberg und St. Severi und die ehemalige Stasi-Bezirksverwaltung.
Drinnen: Erster Stock, Dreizimmerwohnung, 90 Quadratmeter. Vieles noch provisorisch, Jacqueline und Samuel wohnen hier erst seit Februar. „Wir sind gern ein bisschen altmodisch mit Dingen, die eine Geschichte erzählen, auch eine von uns.“ (Jacqueline) Die Küchenkommode bekamen sie geschenkt, das Vertiko ist aufgearbeitet, auf dem Nähmaschinenschrank eine „Erika“-Schreibmaschine aus der DDR, in der Küche ein „Stern“-Transistorradio. Im Schlafzimmer: ein modernes Stahlrohr-Doppelbett und ein geborgtes Himmelbett fürs Baby. „Wir leisten uns den Luxus, noch nicht alles vollgestellt zu haben – dazu haben wir noch genug Zeit.“ (Samuel) In Samuels Arbeitszimmer, das mal Kinderzimmer werden könnte, eine Arbeitsplatte auf zwei Holzböcken. Außer dem Bad noch eine Toilettenattraktion: Ein separates Männerklo.
Wer macht was? Jacqueline ist Journalistin, nach einem Volontariat beim ZDF in Magdeburg zunächst ein Vertretungsangebot in Erfurt, dann eine feste Stelle. Jetzt ist sie im Mutterschutz, Geburtstermin Mitte Mai, die Schwangerschaft verlief problemlos, das Geschlecht bleibt Überraschung. Jacqueline: „Samuels Bachelorarbeit und unser Kind sollen gleichzeitig geboren werden.“ Samuel, „Sam“, studiert seit 2007 in Magdeburg Cultural Engineering – interdisziplinär zwischen Kulturwissenschaften, Management und Logistik. Er neigt bei den vielen Einsatzmöglichkeiten eher zu Event- und Veranstaltungsmanagement. Seine Bachelorarbeit steht kurz vor dem Abschluss, es geht um Stadtentwicklung – die Belebung eines Magdeburger Stadtteils mit Kulturszene. In den Schreibpausen legt er ein Tomatenbeet im Innenhof an.
Wer denkt was? Beide denken jetzt natürlich ans Baby. „Aber bloß nicht kirre machen lassen von den Warnungen anderer!“ (Jacqueline) „Unsere Großmütter haben unter viel schwierigeren Bedingungen viel mehr Kinder bekommen.“ (Sam). Sie sind sich sicher, dass das Kind ihre lebendige Partnerschaft und ihre Interessen nicht einschränken wird. Samuel: „Wir leben vergleichsweise im Luxus.“ Er sieht alles gelassener, ist spontaner, fragt zuerst danach, was geht und nicht nach dem, was angeblich nicht geht. Jacqueline: eher auf Sicherheit bedacht, planender, hat manchmal Skrupel: „Darf man das?“
Jacqueline: Geboren und aufgewachsen in Bergheide bei Potsdam. Studierte Journalistik und Medienmanagement an der Fachhochschule Magdeburg bis 2009. Dort schon Radio und Fernsehen beim MDR ausprobiert. Kann gar nicht verstehen, dass man sie nicht als Ostdeutsche ansehen könnte.
Samuel: In Weißenfels geboren, die Eltern zogen nach der Wende nach Berlin, im Prenzlauer Berg groß geworden, will da aber nicht mehr wohnen. Hat ein FSJ in den USA und in Asien absolviert.
Das erste Date: „Wir haben uns im Stasi-Knast kennen gelernt.“ Samuel organisierte 2008 in der Magdeburger Stasi-Gedenkstätte eine Art Adventskalender. Jeden Abend ein anderes Türchen. Jacqueline war Moderatorin, es ging um jugendliche inoffizielle Mitarbeiter damals. Publikum blieb weitgehend aus, Kaffee, Lebkuchen waren massenhaft übrig. Ein Abend für die Mitwirkenden. Beide wetteten: Wer trinkt mehr Kaffee? Es zündete sowohl optisch als auch beim Gespräch. „War schon ein kleiner Flirt!“ (Jacqueline) Freude übers Wiedersehen, Entschluss von Jacqueline, Samuel nach Indien und Thailand zu begleiten. Danach zwei Jahre Fernbeziehung Magdeburg-Erfurt.
Heiraten? Nicht in absehbarer Zeit. „Eine Beziehung wird durch Staat oder Kirche nicht stärker.“ (Sam) Könnten sich aber mal ein privates Bekräftigungsritual vorstellen. „Ich verspreche auch nicht dem Staat, dass ich Dich lebenslang begleiten will.“ (Jacqueline) Unverheiratete sollten absolut gleiche Rechte bekommen wie Verheiratete. Mit dem Kind bekomme ihre Verbindung allerdings eine neue Qualität.
Alltag: Beide finden: „Fühlt sich nicht anders an als im Ausland, wo wir auch jeden Tag zusammen waren.“ Maximen: Viel miteinander reden, Respekt haben, keinesfalls anschreien, Ängsten begegnen. Wenige Rituale, viel Freiheit, aber in der Regel morgens beim Frühstück (Tee mit klassischem Tee-Ei) das Heute-Journal im ZDF gucken. Sam findet, dass die Flexibilität des derzeitigen Freiberufler-Daseins der nahenden Familie entgegenkommt. Die wird, das ahnen sie, neue Gewohnheiten und Routine entwickeln.
Wie finden Sie Merkel? Jacqueline mag sie gar nicht politisch bewerten. Findet sie aber lange unterschätzt, bewundert ihre Behauptung und Durchsetzungsfähigkeit als Frau. Ambivalent die häufige Korrektur früherer Entscheidungen: Fähnchen im Wind oder Mut zum Eingeständnis von Fehlern? Auch Samuel will gar nicht „rumbashen“ auf ihr. „Ich fände es aber extrem spannend, wenn Peer Steinbrück Kanzler würde!“ Die dynamische Welt brauche neue Ansätze, Veränderung sozusagen aus demokratiehygienischen Gründen sei schon ein Wert an sich.
Wann sind Sie glücklich? Verlegenheit. „Eine etwas alberne Frage.“ (Jacqueline) Viele Kleinigkeiten, der Job, manchmal einfach stricken, sagt sie, und: „Dass jemand einen so nimmt, wie man ist.“ Nicken bei Samuel. Der braucht viel Freiheit, auch für seine Freunde und die eigenen Interessen. „Sich nicht verbiegen müssen.“
■ Nächste Woche treffen wir Markus Kluge in Berlin. Wenn Sie auch einmal von uns besucht werden möchten, schicken Sie uns eine Mail an hausbesuch@taz.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen