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FREMDHEITSGEFÜHLEDer Andere

Er zwinkert mir zu. Knick Knack. Blutige Stelle unterm Auge

Den Nachmittag lungere ich mit Freunden auf dem Spielplatz am Reuterplatz rum. Natürlich drehen wir es irgendwie situationistisch. Wagen aber nicht, dort Bier zu trinken. Oder den Jungs an der Tischtennisplatte die Pommes zu klauen. Danach laufe ich zur Backstube Somnia, weil ich aufs Klo will, nehme einen Kaffee, setze mich auf das Sofa vor der Tür und beginne mein neues Buch von Emanuel Levinas zu lesen, „Zwischen uns“.

Ein etwas narbiger Mann trägt seinen Tee heran, ich mustere ihn: komischer Typ. Blousonlederjacke, dämliche Turnschuhe. Er fragt, ob er sich mit an den Tisch setzen dürfe. Natürlich. Dann nimmt er direkt neben mir Platz. „Guter Typ!“, sagt er mit einem Fingerzeig in Richtung Buch und zwinkert. Knick Knack. Blutige Stelle unterm Auge. Ne, is klar …, denke ich und lese weiter.

Als ich mal in seine Richtung schiele, nickt er aufmunternd. Dann beginnt er zu telefonieren: „Sollen wir heut Abend nich mal Auszeit nehmen? Okay, dann treffen wir uns im Kasino an der Schillerpromenade, ick freu mir! … Nö, bin im Reuterkiez, da hab ick doch mal gearbeitet …, find ick immer schön hier. Bis dann!“

Die Glocken läuten zur Abendmesse. Ich stehe auf und gehe in die Backstube, um im Kühlschrank nach Bier zu suchen – blicke mich dabei immer wieder nervös nach meiner Tasche um. Als ich mich wieder setze, beschließe ich, nicht so scheiße zu sein: „Der Platz ist ja sehr lebendig geworden!“ So plaudern wir eine Weile dahin. Dann steht er auf, um zu zahlen, und sagt noch mal: „Tolles Buch!“ Ich frage müde, ob er das gelesen habe. Er: „Ne, ’n anderet. Aber mir hat ja ’ne Autorin besser gefallen. Komm aber nicht auf ihren Namen. Geht auch darum, dass wir alle anders sind. Fremd. Jeder is ’n Universum! Und dit is gut so.“

Er geht rein, ich grüble. Als er rauskommt, frage ich ungläubig: „Julia Kristeva?“ Und er: „Genau! ‚Fremd bin ick mir selbst!‘ “

ANTONIA HERRSCHER

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