: Verschüttetes wieder ausgraben
FILMFESTIVAL Unbekanntes oder Übersehenes gehört zur Programmatik des Internationalen Filmfestivals in Rotterdam. Die 39. Ausgabe hatte unter anderem einen Afrika-Schwerpunkt
VON ISABELLA REICHER
In den 1980er-Jahren drehte der senegalesische Filmemacher Samba Félix N'Diaye eine Serie von kurzen Dokumentationen, der er den Titel „Mülleimerschätze“ (Le trésor des poubelles) gab. Anschaulich wird gezeigt, wie ein Team hart arbeitender Männer aus Schrott Kochkessel und andere Küchenutensilien herstellt. Die entsprechenden Industrieprodukte, sagt einer der sozial schlecht angesehenen Handwerker, machten optisch sicher mehr her, aber in puncto Haltbarkeit könnten diese es mit dem in der improvisierten Manufaktur hergestellten Gerät nicht aufnehmen.
Das Bergen von Schätzen an unerwarteten Stellen oder ganz einfach das Herstellen von Öffentlichkeit für noch unbekannte oder gemeinhin gerne übersehene Filme, Formen oder Produktionskontexte ist Teil der Programmatik des Internationalen Filmfestivals Rotterdam. Die 39. Ausgabe, die am Sonntag zu Ende ging, stellte sich etwa die Frage: „Wo ist Afrika?“
Ein umfangreiches, notwendigerweise fragmentarisch angelegtes Programm führte aus der Gegenwart auch zurück zu Pioniertaten wie „Le retour d'un aventurier“ (1967) von Mustapha Alassane, der eine Clique junger Tagediebe in einem Dorf im Niger mit Cowboy-Monturen ausstattet und in der Folge den Konflikt zwischen Generationen und Lebensmodellen im komisch gewendeten Tonfall eines Italo-Westerns austrägt.
Es wurde des kürzlich verstorbenen Dokumentaristen N'Diaye gedacht, Filme des sudanesischen Kinopioniers Gadalla Gubara wurden gezeigt oder etliche afrikanische Musikensembles aufgeboten, die das Stummfilmprogramm begleiteten. Dass diese ambitioniert gestaltete Programmschiene eher ein Geheimtipp blieb, teils vor beschämend wenig Publikum stattfand, könnte ein Anlass sein, die allmählich überbordenden Sonderprogramme zu reduzieren und ihnen wieder schärfere Kontur zu geben.
Doch zurück zu den gezeigten Filmen. „Trash Humpers“ transportiert ein eigentümliches Stimmungsgemisch: Nicht nur im Senegal, auch in Nashville, Tennessee, weiß man dem Abfall einiges abzugewinnen. Menschen reiben sich da des Nachts eindeutig anzüglich an wehrlosen Mülltonnen. Die Mitglieder dieses kleinen Anarcho-Performance-Grüppchens tragen faltige Greisenhäupter auf ihren merklich jungen Körpern. Gedreht auf VHS, dementsprechend schundig schon an der sichtbaren Oberfläche, angesiedelt auf jenem schmalen Grat, wo das karnevaleske Treiben nicht nur befreiende, sondern auch verstörende, gewalttätige, zersetzende Seiten zeigt.
Das Mastermind hinter dieser wilden Mischung aus Fake-Home-Movie, Impro-Theater und Slapstick steckt selbst unter einer der Greisenmasken: Harmony Korine, einst Autor von Larry Clarks „Kids“ und Filmwunderkind, hat seinen vierten Langfilm billig und schnell, in größter Freiheit, in vertrauter Umgebung und quasi im Kreis seiner eigenen Familie realisiert. Wie in seinen früheren Arbeiten zeigt sich auch hier eine Affinität zum Abseitigen, die jedoch nie spekulativ ist, sondern von Empathie geprägt: „Ich kann den Schmerz der Menschen hier riechen“, heißt es einmal in diesem großen kleinen Film.
Alteisen und Nachwuchs
Korines Rückgriff auf das bereits zum uralten Eisen mutierte analoge Medium passte wiederum hervorragend zum Spezialprogramm „Re: Reloaded“ – eine Revue technologischer Entwicklungen, die als kluge Kommentare auf die Kinogegenwart beispielsweise den 3D-Release von Alfred Hitchcocks „Dial M for Murder“ aufbot.
Eine andere Bergung des Festivals verdankte sich wohl gegenwärtigen Verwertungszusammenhängen: „Dogs in Space“ von Richard Lowenstein, eine 1986 gedrehte, im Melbourner Musik-Underground der späten 70er-Jahre angesiedelte Tragikomödie und Milieustudie, wurde im vergangenen Jahr in einer DVD-Ausgabe mit zahlreichen Zusatzfeatures wieder zugänglich gemacht. Die Restaurierung des Spielfilms, dessen unvoreingenommener, spielerischer Gestus inzwischen schon genauso wehmütig stimmen kann wie die für „Dogs in Space“ von Marie Hoy eingespielte, wunderschöne Cover-Version der Boys-Next-Door-Nummer „Shivers“, kommt auch dem Kinopublikum zugute.
Das Rotterdamer Festival ist natürlich keineswegs eine rückwärtsgewandte Veranstaltung. Dem aktuellen Filmnachwuchs gilt hier besonderes Augenmerk, Spielfilmdebüts wie jenem der aus Costa Rica stammenden 31-jährigen Paz Fábrega. Ihr eindringliches, am Ende mit einem von drei Tiger Awards prämiertes Spielfilmdebüt „Agua fría de mar“ entwickelt an einem idyllischen Küstenstrich, an dem Upper-Class-Reisende wie Arbeiterfamilien Urlaub machen, ein verhaltenes Drama.
Ein ungestümes kleines Mädchen, das sich heimlich aufmacht, die Wildnis zu erkunden, wird von einem jungen Paar gefunden. Der Frau erzählt die Kleine eine Begebenheit, die wahr sein könnte und genauso gut erfunden – auf jeden Fall hat diese Geschichte ungeahnte Auswirkungen. Zwischen den beiden Figuren knüpft Fábrega bald auch visuell eine eigentümliche, untergründige Verbindung. Auch hier wirkt schließlich verschüttete Vergangenheit noch auf die Gegenwart.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen