Stets die Angst, zu verlieren

Brigitte Giraud erzählt in ihrem neuen Roman „Im Schatten der Wellen“ von einer Frau und ihren Problemen in einer Patchwork-Familie

von MARGRET NITSCHE

Die Patchworkfamilie ist eine der beunruhigendsten Erscheinungen des modernen Lebens. Kann diese komplizierte Konstruktion aus zerbrochenen und neu zusammengesetzten Frau-Mann-Kind-Beziehungen wirklich funktionieren? Bedroht sie gar die traditionellen Familienwerte? Zahlreiche Fernsehfilme und Werke der so genannten Frauenliteratur widmen sich dem Thema. Dabei werden die Familienneugründungen nach dem klassischen Muster aller affirmativen Fiktionen zunächst problematisiert, dann aber als gar nicht so schwierig dargestellt und schließlich munter ideologisch vereinnahmt – zur Bestätigung der heilen Familienwelt, die durch Brüche nur gestärkt wird.

Dass diese Rückführung in tradierte Beziehungsformen ganz und gar nicht so einfach vor sich geht, davon handelt der neue Roman der französischen Autorin Brigitte Giraud. „Im Schatten der Wellen“ beschreibt einen Versuch, aus zwei beschädigten Teilfamilien eine neue, heile Familie zu schmieden. Die Versuchsanordnung ist einfach: eine Frau, ein Mann, drei Kinder, ein gemeinsamer Urlaub, kaum andere Menschen. Präzise protokolliert Giraud, was in diesem Experiment passiert und wie es sich anfühlt – genauso präzise, wie sie schon in ihrem letzten, autobiografischen Roman, „Das Leben entzwei“, einen gewaltsamen Bruch und seine Folgen geschildert hat: den Unfalltod ihres Mannes. Diesmal führt die Ich-Erzählerin Linda das Protokoll. Abrupt verlassen vom Vater ihrer beiden Töchter, hat sie sich nach Jahren der Schmerzensstarre neu verliebt in einen immer noch in düsterer Trauer gefangenen Witwer mit pubertierendem Sohn.

Der Roman beginnt mit der Anreise nach Südfrankreich, wo alle in einem einsam gelegenen Haus in den Weinbergen ausprobieren wollen, ob sie vielleicht „eine richtige Familie“ sein könnten. Schon auf der Fahrt gibt es Spannungen: Der Mann fährt zu schnell, der Frau wird schlecht, die Kinder sind genervt. Die Aufteilung der Betten sorgt für neuerliche Gekränktheiten, der erste Gang ins Dorf verursacht bei der „gemeinsamen Front“ schnell Unbehagen.

Es ist beklemmend, wie Giraud eine Atmosphäre angespannten Misstrauens schafft. Jeder beobachtet den anderen, keiner wagt, aus der Deckung zu gehen: „Wir verließen uns darauf, dass der andere den Ablauf dieses ersten Tages organisieren, alle Risiken auf sich nehmen würde.“ Die Frage ist nur, ob das wirklich allein an der Konstruktion Patchworkfamilie liegt. Linda sieht es so – sie hat das Verlassenwerden als eine Art Naturkatastrophe erlebt, sie ist traumatisiert. Aus ihrer Sicht sind sie und ihr Geliebter als Folge des Zusammenbruchs einer vermeintlich heilen Welt „von der Angst des Verlierens beherrscht.“ Linda verharrt passiv in hilfloser Abhängigkeit. Er, der immer fährt, hat ihrer Ansicht nach „nicht nur das Lenkrad in den Händen, sondern auch unser Schicksal“. Sie fühlt sich wie „ein kleines Tier, das sich auf ein in seinen Augen bevorstehendes Erdbeben vorbereitet“. Er zieht sich zurück, schweigt, raucht. In ihren Augen ist das rücksichtslos, egoistisch, grausam. Sie möchte ihn retten, für ihn „unentbehrlich“ sein, er entzieht sich – ein bekanntes Muster, nicht nur in Patchworkfamilien.

Wir kennen jedoch nur Lindas Sicht der Dinge, und die ist beschränkt. Sie beobachtet sich selbst genau, aber im Grunde ist sie eine naive Heldin.

Giraud beschränkt sich strikt auf Lindas Innenperspektive, die reflektierend-analysierende Ebene fehlt diesem Roman völlig. Dass das Phänomen Patchworkfamilie in einen gesellschaftlichen Zusammenhang gehört, in dem Werte wie Freiheit und Selbstverwirklichung einen hohen Stellenwert haben, dass dieses Phänomen mit der Veränderung der Geschlechterbeziehungen zu tun hat, dass die Spannung zwischen Nähe und Autonomie etwas ist, was in jeder Beziehung ausgehalten und geklärt werden muss – all das spart Giraud aus. Ihr Roman beschränkt sich auf den Kosmos einer leidenden Frau, die glaubt, keine Macht über ihr Leben zu haben, und ihr Unglück auf eine Ursache zurückführt.

Durch diese Beschränkung entfaltet „Im Schatten der Wellen“ eine starke, wenn auch irritierende Wirkung. Giraud gibt so wenige Hinweise, dass Sätze wie: „Ich wusste, dass du an sie dachtest, dass du versuchtest, gegen das Vergessen anzukämpfen“, als Aussagen einer allwissenden Ich-Erzählerin gelesen werden können oder als Allmachtsfantasie einer Frau, die in einem symbiotischen Beziehungswahn lebt. Bis zum Schluss weiß man nicht, was real ist und was Lindas Vorstellungswelt entspringt – das Ende ist verstörend und bleibt doch offen. Es gibt keine Instanz, die aus der eingekapselten Welt Lindas herausführt. „Im Schatten der Wellen“ ist ein beunruhigender Roman, kein locker-flockiges „Ich heirate eine Familie“-Szenario, in dem am Ende alles gut wird. Und ein streng subjektiver, altmodisch-zeitloser Roman dazu.

Brigitte Giraud: „Im Schatten der Wellen“. Aus dem Französischen von Anne Braun Fischer. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005, 122 Seiten, 14,90 Euro