An Uhren drehen

Kaum Uraufführungen, viel Retrospektives, viel Avantgarde-Patina: Das diesjährige Ultraschall-Festival für neue Musik setzt auf alte Größe – und zeigt oft geradezu mustergültig, mit wie viel Frische man das machen kann

VON BJÖRN GOTTSTEIN

Es ist hilfreich, dem musikalischen Kanon alle paar Jahre mal ordentlich aufs Gerippe zu schlagen – um sich zu vergewissern, dass noch etwas dran ist an dem, woran die Musik der Gegenwart mit einer gewissen Selbstverständlichkeit gemessen wird. In besonderem Maße gilt das für Werke der Avantgarde, die häufig schlecht altern und meist mehr Rost als Patina ansetzen.

Nehmen wir den berühmten Pavillon, mit dem die Firma Philips 1958 auf der Brüsseler Weltausstellung warb und der gemeinhin als Idealfall eines multimedialen Kunstwerks gefeiert wird. Le Corbusier baute damals, nach Skizzen seines Assistenten Iannis Xenakis, schwerelose Betonhäubchen und versah diese mit Licht, Skulpturen, Diapositiven und einem Film. Den musikalischen Teil überantwortete er Xenakis und Edgard Varèse, die zwei elektronische Werke beisteuerten.

Fragmentarisch ist der Pavillon in Form von Skizzen, Fotos, Filmen und den beiden Musiken gut dokumentiert. Allerdings hat man sich stets damit zufrieden gegeben, die gerühmte Verschmelzung seiner Einzelteile der Erinnerung zu überlassen. Als der niederländische Komponist Kees Tazelaar unlängst die Brüsseler Konzerttonbänder entdeckte, wurde klar, dass sich das synästhetische Gesamte wiederherstellen lässt. Und so ist der Pavillon als „virtual electronic poem“ ab heute gleich zweifach im Tesla zu sehen.

Kees Tazelaar, der zurzeit als Varèse-Gastprofessor an der TU lehrt, verräumlicht die ursprünglich mehrkanaligen Musiken mit sechs Lautsprechern und und schließt sie simpel zusammen mit einer Rekonstruktion des Videomaterials. Aufwändiger und futuristisch-spektakulärer ist eine zweite Umsetzung: Unter Cyber-Helmen kann man sich in einer 3-D-Projektion durch den Pavillon bewegen. Bemerkenswert ist dieses Projekt nicht nur, weil man hier Zeitgeist der Fünfzigerjahre schnuppert. Mit dieser Rekonstruktion kann man der Klischeemeinung, dass der Pavillon auch heute noch allen Anforderungen an Multimedialität standhält, mit einem deutlicheren Ja als bislang begegnen.

Der virtuelle Pavillon ist nur eins von mehreren Projekten, mit denen das Festival Ultraschall in diesem Jahr auf Historie und Tradition pocht. Ultraschall, das nie ein ausgesprochenes Uraufführungsfestival gewesen ist, hat die Uhren in diesem Jahr weiter als üblich zurückgedreht: Mit einer Retrospektive feiert man nicht nur den 70. Geburtstag Helmut Lachenmanns, sondern auch Franco Evangelisti, der just heute 80 Jahre alt geworden wäre. Auch Evangelistis Werke gelten als Paradigmen der Avantgarde, obwohl sie – anders als die Werke von Varèse, Xenakis oder Lachenmann – nie eine wegweisende Innovation eingeführt haben. Die Partituren von Evangelisti öffnen stattdessen Perspektiven, die auf musikalische Probleme hinweisen, die zu lösen seinen Zeitgenossen nicht gelang. 1963 fällte er die radikalste Entscheidung, die ein Komponist treffen kann: er verstummte.

Zu seinen letzten Partituren gehört „Die Schachtel“, eine szenische Aktion für Schauspieler, Projektionen und Kammerorchester, die in den vergangenen Jahrzehnten ganz unterschiedlich ausgelegt worden ist. Das „labor für musik“ hat das Stück unter der Leitung von Daniel Kötter jetzt in ein Konzert-Environment für die Sophiensäle verwandelt.

Die Handlung ist schnell erzählt: Menschen leben in einer Schachtel, brechen aus, ertragen die Freiheit nicht und kehren schließlich in die Schachtel zurück. Es ist nahe liegend, die Schachtel als Metapher für Ideologien, Grenzen der Wahrnehmung und Isolation auszulegen. Das Werk beschreibt diese Grenzen nicht nur, sondern setzt sich mit den Mitteln der Kunst über sie hinweg.

In der Berliner Inszenierung ist das vor allem deshalb so gut gelungen, weil Zeit und Raum selbst mehrfach zwischen innen und außen – das Wortspiel sei erlaubt – verschachtelt werden. Zwischen Pappschachteln verzerren Leinwandprojektionen und Soundeinspielungen ständig den Raum. Das Publikum streunt herum, während Instrumentalisten dazwischen herumimprovisieren: Das ist nicht nur installierter Klang und projiziertes Bild – über mehrere Stunden hinweg bekommt die reale Konzertsituation immer mehr Gewicht. Die Darstellung von Gefangenschaft und Orientierungslosigkeit in der Vereinzelung kommt hier sehr nah an etwas heran, was man als ihren Kern bezeichnen könnte.

Evangelisti war sowohl an einer Öffnung des Werkkonzepts gelegen als auch an vertrackten technischen Lösungen: Die Inszenierung in den Sophiensälen scheut nicht vor Aufwand zurück und löst Evangelistis komplexe Vernetzungs-Anforderungen mustergültig ein. Dass darüber hinaus auch noch die historische Dimension des Werkes zum Tragen kommt, liegt nicht zuletzt am Londoner Ensemble Apartment House, das der Aufführung den gediegenen Sound einer guten Vinylaufnahme der Sechzigerjahre verleiht.

„Ultraschall – Das Festival für neue Musik“ noch bis zum 29. 1.; Infos unter: www.dradio.de; „Die Schachtel“ noch heute und morgen; „Virtual Electronic Poem“ im Tesla noch bis zum 28. 1.