Im selben Boot mit Inuit und Polarforschern

Ein satter Eisbär, Frühlingsflor und Dauerfrost: von der Reise auf einem Expeditionsschiff durch die kanadische Arktis

Eisbären sind so schwer wie ein VW Golf, angriffslustig, pfeilschnell, gefährlich gute Schwimmer

von MARCO KAUFFMANN

Die Flughafenangestellte ruft „Bienvenue à Kuujjuaq“ – das Inuitdorf liegt am Nordzipfel von Kanadas französischsprachiger Provinz Quebec. Von nun an werden wir nur noch Inuktitut hören, die Sprache der indigenen Bevölkerung, oder Englisch, die Schiffssprache. Am späten Nachmittag wirft der Kapitän der „Ushuaia“ die Motoren an, steuert gemächlich aus dem Fjord. Abgeschliffene Felsen säumen das Ufer, graugrün, Sträucher, kein Baum, ab und zu ein Zelt oder eine Art Gartenhäuschen – Wochenenddomizile der Inuit. Die „Ushuaia“ stand bis vor fünf Jahren im Dienste einer amerikanischen Wissenschaftsvereinigung, heute versorgt sie Forschungsstationen am Nord- und am Südpol. Ab Juli, wenn das Eis geschmolzen ist, kreuzt das Schiff mit Touristen durch die Arktis, bis im September das Polarmeer erneut gefriert.

Nach einer kurzen Nacht – das Sonnenlicht verschwindet kaum drei Stunden lang – unterwerfen wir uns erstmals der aufwändigen Anziehprozedur: Regenhose, drei Schichten Pullover, Handschuhe, Kappe, Gummistiefel an, Kapuze hoch, Schwimmweste anzurren, Leiter hinunter und mit einer 180-Grad-Gesäßdrehung ins schwankende Schlauchboot. Die „Ushuaia“ stoppt einige Kilometer vor der Insel Akpatok. Stechendes Sonnenlicht, beißender Wind und das Gekreische von tausenden Dickschnabellummen – arktischen Vögeln, die wie kleine Pinguine aussehen.

Die fünf Schlauchboote preschen über die Wellen. Jedermann hat eine Hand ums Seil gekrallt, die andere um den Feldstecher. Boot 1 dreht unvermittelt ab, die anderen bremsen. Die Steuermänner im orangefarbenen Overall funken: „Was ist das dort?“ – „Eine Eisscholle?“ Geschäftiges Schrauben an Feldstechern und breitrohrigen Teleobjektiven. „Das ist ein Eisbär“, gibt die ortskundige Inuitführerin Jessie Annanack durch. Sie ist in einer traditionellen Inuitgemeinschaft aufgewachsen, sie lernte als Kind jagen, Wetterprognosen aus Wolkenbildern ableiten und Karibukleider schneidern.

Die Schlauchbootflotte tuckert weiter. Aus dem weißen Pünktchen wird ein Bär. Der König der Arktis, und das am ersten Tag. In den Schlauchbooten kehrt eine andächtige, feierliche Stimmung ein. „Oohh“ im Flüsterton und das Klick-klick-klick der Kameras. Bis jemand ruft: „Können wir nicht näher ran?“ Können wir nicht. Eisbären sind etwa so schwer wie ein VW Golf, angriffslustig, pfeilschnell und gefährlich gute Schwimmer.

Inuitführer Bruce Qinuajuak hat sein Gewehr geladen. Für den Fall eines Angriffs. Der Eisbär, einige hundert Meter entfernt, wälzt sich seelenruhig am Steinstrand der Insel, zerrt an Seegras herum und schlägt seine Pranken aufs Wasser. „Er scheint nicht hungrig zu sein“, beruhigt Jessie.

Beim Mittagessen, zurück auf der „Ushuaia“, bringt das „Wir haben den Bär gesehen“-Erlebnis die Schiffspassagiere miteinander ins Gespräch. Die eingefleischte Nord- und Südpoltouristin (einmal Arktis, zweimal Antarktis) mit der britischen Familie (zwei schulpflichtige Kinder). Das junge Pärchen aus Ottawa mit der über 80-jährigen schwerhörigen Lady in roter Sportjacke und dosiertem Rouge auf den Wangen. „Wie häufig waren Sie auf Kreuzfahrten?“, erkundigen sich die Jungen. „Kreuzfahrten? – Niemals!“ , antwortet die Dame, als hätte jemand einen ungeheuerlichen Verdacht ausgesprochen. Mitternachtsbüfetts bietet die „Ushuaia“ ebenso wenig wie Bridge-Nachmittage oder Tanzveranstaltungen, und wer mit seiner Garderobe auffallen will, muss schon pinkfarbene Gummistiefel tragen – wie die distinguierte Kreuzfahrtenverächterin. Auf der Kommandobrücke haben die Passagiere rund um die Uhr Zugang. Einziges Verbot: Knöpfe drücken. Die einen suchen spätabends den Horizont nach Robbenschwärmen ab, andere fragen den Offizier schon vor dem Frühstück Löcher in den Bauch. Wie ist das mit den Eisbergen? Wie lange brauchen Sie vom Nord- zum Südpol? Werden Sie auch seekrank? Bis der Lautsprecher ruft: „Please go to the lecture room.“

Der Vortragssaal wird das Leben an Bord ebenso bestimmen wie die Brücke, die Ausflüge und die Kantine. George Hobson eröffnet die Vortragsreihe. Ein Fossil der Polarforschung, das in seinen 84 Jahren jeden noch so gottvergessenen Ort in der Arktis gesehen hat und nicht aufgegeben hat, Spuren der im 19. Jahrhundert verschollenen Expedition von Sir John Franklin aufzuspüren. Der liebenswerte George weiß unheimlich viel. Anekdoten bringen ihn zuweilen auf Abwege. Ein anderer Forscher, der uns auf der Fahrt durch die Arktis begleitet, ist Walexperte Andy Wenzel. Der Kanadier mit Jungencharme zieht alle in seinen Bann, als er Dias von 60-Tonnern auf seiner Walexpeditionen zeigt. „Dieser Grönlandwal hat mir aus der Hand gefressen. Ich berührte seinen Vorderkopf – das schönste Gefühl in meinem Leben.“

Die „Ushuaia“ wirft vor Quaqtaq, zu Deutsch „Bandwurm“ , Anker. Das nächste Dorf ist mehrere hundert Kilometer entfernt. Seeleute im orangefarbenen Overall kurbeln die Schlauchboote ins Wasser und steuern mit je acht Passagieren auf die 333-Einwohner-Siedlung zu. Anlegeplätze gibt es nicht, wir waten einige Meter durchs Wasser. Am Ufer Schuhwechsel, von den Gummistiefeln in die Wanderschuhe. Kinder mit Rädern umkurven neugierig die Fremden: „Hello, what is your name?“

Es ist das erste Mal, dass Touristen Quaqtaq besuchen. Das Schiff darf anlegen, weil diese Expeditionsfahrt von einer Inuitgesellschaft durchgeführt wird. Quaqtaq, die umliegenden Siedlungen und Nationalparks werden von der indigenen Bevölkerung verwaltet. Walforscher Andy führt die Gruppe an schuhschachtelförmigen Häusern vorbei, die wegen des Dauerfrosts auf kleinen Stelzen stehen, rot, grün, blau gestrichen.

Alte sitzen an den Fenstern, winken. Im Bachbett eine Pepsi- Büchse, Robbenschädel und Plastiksandalen. Die Schottersträßchen sind menschenleer, hin und wieder brausen Vehikel vorbei, die wie Traktoren aussehen, aber ein Tempo draufhaben wie Motorräder. „Lächle, Gott liebt dich“, verspricht ein Kleber am Tank eines dieser Gefährte. Die Kinder mit den Rädern sind wieder da, fragen nach Süßigkeiten, nicht bettelnd, sondern charmant bittend.

Das Flugfeld mit Friedhof nebenan markiert nach fünf Minuten Fußmarsch bereits das Dorfende. Vor uns liegt weites, flaches Land. Stille. Kein spektakuläres Fotomotiv. Andy, der Biologe, springt derweil begeistert davon. Ein Lemming! Die Kinder haben ihn entdeckt und halten das Kleintier in den Händen. Der Laie könnte es mit einem Hamster verwechseln.

Der Landausflug endet in einem fensterlosen Container, dem Dorfladen von Quaqtaq. Gefrorene Fischstäbchen, Büchsenapfelmus, Polarfuchsfelle, Daunenjacken, Briefmarken: Beinahe alles verkauft der Co-op, außer Alkohol. Quaqtaq ist ein „trockenes Dorf“. Viele Inuitsiedlungen leiden unter gravierenden Alkoholproblemen. Das Bandwurmdorf hat sich selbst einen Bann auferlegt. Wer in Quaqtaq feiern will, muss bei der Dorfverwaltung eine Sonderlieferung beantragen.

Am frühen Abend kehren die Landgänger zur „Ushuaia“ zurück. Nach dem Nachtessen gibt Shoshana Jacobs Einblick in das Leben einer Vogelforscherin. Jeweils im Mai lässt sich die Doktorandin in der Arktis mit Lebensmitteln für drei Monate auf einer unbewohnten Insel aussetzen. Mit Helm und Seil klettert sie Kliffe entlang, entnimmt tausenden von Vögeln Blutproben und untersucht die Auswirkungen der Klimaerwärmung auf die Vogelwelt. „Wir sehen am Polarkreis zunehmend Vogelarten, die hier nicht hingehören. Die wärmeren Temperaturen verändern das Ökosystem in der Arktis und die Lebensgrundlagen der Inuit.“

Ihre Erkenntnisse will Shoshana nicht nur in wissenschaftlichen Zirkeln vortragen, sondern auch auf dem Boot als Reiseleiterin mit dem Spezialgebiet Vögel. Sie wolle unter Touristen nicht missionieren. „Aber“, schmunzelt die 27-Jährige mit Zungenpiercing, „wer dieses einzigartige Ökosystem mit eigenen Augen gesehen hat, wird vielleicht auch bei den nächsten Abstimmungen und Wahlen daran denken.“ Ihren Vortrag krönt sie mit Bildern eines Polarbären, aufgenommen aus dem Guckloch eines WC-Containers.

Die spektakulären Bilder, die die Polarforscher zeigen, decken sich nicht immer mit den Erlebnissen der Reisenden. Tierbeobachtung verlangt viel Geduld und noch mehr Glück. Der erste Tag, der mit dem Eisbären, hatte hohe Erwartungen gesetzt. Einen lebendigen Wal werden wir nicht sehen. Lediglich ein lastwagengroßes Skelett. Als noch ein heftiger Sturm aufkommt und ein Teil des Programms ausfällt, schwankt nicht nur die „Ushuaia“, sondern auch die Stimmung einiger Passagiere – bis zum grandiosen Abschluss am Freitagabend.

Kein Kapitänsdinner, nein, eine simple Bildervorführung. Momente unserer einwöchigen Reise durch die kanadische Arktis, komponiert aus frischen Digitalfotos der 40 Reisenden. „Waren wir nicht Teil einer außergewöhnlichen Expedition?“, flüstert die Sitznachbarin mit dem deutschen Akzent.