EINSCHLIESSEN: Frau Kurzmann
Frau Kurzmann aus der ersten Etage hat in den acht Jahren, die ich drei Etagen über ihr wohne, schon oft Pakete für mich angenommen. Jedes Mal musste ich ihr erklären, wer ich bin und in welcher Etage ich wohne. Frau Kurzmann ist 87 Jahre alt und, wie viele alte Menschen, vorsichtig. Vor einigen Wochen hat sie mir bei einer Paketabholung erzählt, dass ihr Sohn, der bei ihr lebt und auch Rentner ist, ins Krankenhaus müsse. Angst und Verzweiflung standen ihr ins Gesicht geschrieben. „Dann bin ich ganz allein.“ Ich gab ihr meine Telefonnummer.
Jetzt habe ich einen Schlüssel zur ihrer Wohnung und bringe ihr die Post. Sie liest den Kurier. Beim ersten Mal haben wir uns länger unterhalten. Es war ein trauriges Gespräch, weil Frau Kurzmann einsam ist. Als sie klagte, dass sie auch keinen Appetit habe und Tütensuppe esse, weil sie ja was essen müsse, habe ich eine Kartoffelsuppe gemacht. Die haben wir dann in ihrer Küche ausgelöffelt. Dabei hat sie viel von ihrem Sohn erzählt, dem in diesen Tagen ein Gallenstein zertrümmert wird. „Der ist komisch, so ein Einzelgänger.“ Er isst allein in seinem Zimmer, wo er viel Zeit vor dem Computer verbringt. Es gab nur einen positiven Aspekt, den sie über ihn sagte: „Er ist ein guter Einkäufer und geht schon mal in drei Supermärkte.“ Am traurigsten fand ich die Tatsache, dass sie ihren Sohn anruft, wenn sie etwas braucht. „Früher habe ich an die Wand geklopft, jetzt rufe ich ihn an.“ Zum Beweis zog sie ein schnurloses Telefon aus ihrer blauen Kittelschürze. Frau Kurzmanns Einsamkeit legte sich über die leer gegessenen Teller.
Weil Frau Kurzmann schlecht zu Fuß ist, schließe ich jedes Mal, nachdem ich mich verabschiedet habe, die Wohnungstür von außen ab. „Schließen sie mich ein!“, ruft sie dann aus ihrem Fernsehsessel. Es macht mich traurig, die traurige Frau Kurzmann einzuschließen.
BARBARA BOLLWAHN
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