Einigeln im Kokon aus Papier

Hartnäckigkeit zahlt sich nicht aus – aber depressiv wird trotzdem niemand in dieser Inszenierung: Florentine Klepper inszeniert „Die Leiden des jungen Werthers“ am Schauspielhaus und bleibt zeitgemäß, ohne larmoyant zu wirken. Auch das Hohngelächter angesichts der befremdlichen Tat bleibt leise

von Christian T. Schön

Werther ist ein armes Schwein. Nicht nur, dass er die Gesellschaft, in der er leben muss, hasst. Nein, er ist auch noch verliebt! Unglücklich verliebt, versteht sich. Denn Lotte ist bereits vergeben und zeigt ihm die kalte Schulter. Beinah zwei Jahre läuft Werther ihr hinterher – mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt. Was soll man aus heutiger Sicht zu so viel Hartnäckigkeit sagen? Selber schuld?

Zu Anfang wird Goethes Werther in Florentine Kleppers Inszenierung, die jetzt am Schauspielhaus Premiere hatte, wahrlich aus dem Text geboren: Fünf Schauspieler treten aus einem überdimensionalen Bogen Papier. Adriane Westerbarkeys Bühne dazu ist rational und schön zugleich: Jede Szene trägt das Datum im Briefkopf des Bühnenbildes, Ziffern schwirren umher, eine Kurve absteigender Stufen deuten auf das irgendwann bevorstehende Ende Werthers hin.

Durch die Aufteilung der Brieftexte auf fünf Sprecher sind Werthers Leiden in dieser Inszenierung leichter zu ertragen, als wenn das anders wäre. Da gibt es den wunderbar hämischen Werther von Kai Schumann, den emotionalen von Daniel Wahl und den rationalen von Verena Fitz. Alle fünf zusammen spielen und erzählen (im besten Sinne) die Handlung – ohne die depressive und grüblerische Facette in irgendeiner Hinsicht überzustrapazieren.

Über Goethes Natur- und Glücksprosa wird dabei rasch dahingeflogen, um genüsslich an den feinen ironischen Brüchen, die der Autor schuf, zu verweilen. So nimmt der Kuss, den Lotte Werther von einem Papagei überbringen lässt, mehr gefühlten Raum ein als die Selbstmord-Diskussion zwischen Werther und Albert.

Florentines Kleppers Inszenierung des 220 Jahre alten Goethe-Briefromans ist jetzig und frisch, ohne „krass“ zu sein. Die fünf Werther springen über die Bühne und wechseln die Haartracht, als suchten sie ihre Position im Leben. Der Papierbogen zerreißt (wie es Werther zerreißt), und die fünf igeln sich in die Papierreste ein wie in einen schützenden Kokon.

Gekonnt bindet die junge Regisseurin Hörspiel- und Videoelemente in die flotten 90 Minuten ein und nutzt virtuos ihre Opernregie-Erfahrung: Die fünf Werther sprechen als Chor und als Solisten, mal kriegt jeder nur ein Wort, das er/sie ruft, wiederholt oder falsettiert. Dezent ikonoklastisch entblößt Klepper den emotionalen Gehalt der Goethe-Prosa, in dem sie Lautmalereien akzentuiert: „Hmm!“, „Pfui!“, „Zwar“ und „Klopstock“. Manchmal ruft einer der Werther auch nur mit Erstaunen ein Wort: „Nikolaus“. Oder das Datum: „12. September“.

Mitleid für Werther scheint jedoch fehl am Platz. Fast arrogant wirkt seine Rechtfertigung für den Selbstmord, mit der er das Leben von Lotte erschüttert. Weder Edelmut, noch ein unerhörter Hilferuf stecken dahinter. Man kann über diesen Werther höhnisch urteilen, über seine Illusionen und Irrationalität. Täte man das allerdings, käme man der Grundhaltung all jener Mannesmänner und Politiker bedenklich nahe, die den verzweifelten und perspektivlosen Opfern ihrer Entscheidungen ähnlich verständnislos begegnen.

Nächste Aufführungen: 23., 20 Uhr sowie 31.1., 19 Uhr, Schauspielhaus