„Sie sehen die Narbe jeden Tag“

Barbara Ahrens

„Krimis sind eine gute Plattform, um Tabus zu brechen. Im günstigsten Fall erschließt sich über die Lektüre ein Publikum, das sich sonst damit nicht beschäftigen würde“

Ihre Mutter bringt sie 1945 auf der Flucht zur Welt. Kindheit und Jugend verbringt sie in Hannover. Die Oberschule muss sie nach der 10. Klasse verlassen, weil Mädchen doch heiraten, wie ihr Vater immer sagte. Sie tut, was verlangt wird. Mit 17 wird sie Fremdsprachensekretärin, arbeitet in München und Freiburg, heiratet, finanziert den studierenden Ehemann. Erst später macht sie die Begabtenprüfung für die Pädagogische Hochschule und wird Lehrerin. Sie arbeitet in Ulm, engagiert sich in der Frauenbewegung, macht einen Fernkurs in Journalismus und veröffentlich erste Kurzkrimis. 1995 zieht sie nach Berlin. Ende letzten Jahres kam ihr erster langer Krimi „Operation Schönheit“ heraus, der im Milieu der Brustkrebschirurgie spielt

INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB

taz: Frau Ahrens, Sie haben einen Krimi geschrieben. Ermordet wird ein Berliner Schönheitschirurg, der brustamputierten Frauen falsche Brüste implantiert. So richtig kommt das nicht als Sex und Crime daher.

Barbara Ahrens: Was meinen Sie mit Sex und Crime? Dass der Ermordete Schönheitschirurg sei, schreibt im Krimi ja nur die Schmierenpresse. In Wirklichkeit ist er ein Mamma-Chirurg.

Wo ist der Unterschied?

Schönheitschirurgen machen alles – Lippen aufpolstern, Fett absaugen, Nasen korrigieren – Mamma-Chirurgen sind Krebsspezialisten. Wenn Brüste amputiert oder verkleinert werden, treten sie auf den Plan. Mit Implantaten wollen sie die ursprüngliche Form, so behaupten sie zumindest, wieder herstellen. Mamma-Chirurgen sind große Spezialisten und sehr nachgefragt. Auch heute noch, wo Brustamputationen seltener sind. Oft wird bei einer Operation die Brust ja erheblich verkleinert. Da wird geraten, das auszugleichen.

Haben Sie statistische Zahlen?

Mit Zahlen ist es schwierig, da es bis heute kein zentrales Krebsregister gibt.

Wie dem sei, in Ihrem Krimi treten Frauen auf, die mit dem Stigma des Lädierten klar kommen müssen.

Glauben Sie, nach einer Brustoperation sind Sie nicht lädiert? Stellen Sie sich vor, Sie werden operiert und danach fehlt Ihnen eine Brust oder Sie haben eine große und eine ganz kleine. Also da ist der Körper eben nicht mehr unversehrt. Er genügt dem Bild einer Frau in unserer Gesellschaft nicht länger.

Meinen Sie, es genügt, als Frau zwei intakte oder komplette Brüste zu haben, um gleichwertig zu sein?

Wenn dem so wäre, dann könnte man es vielleicht noch verstehen, dass Frauen sich dem Terror aussetzen, sich ihre Brüste rekonstruieren zu lassen.

Frauen genügen also generell nicht?

Lange habe ich nicht verstanden, dass Frauen einem Schönheitsideal hinterherlaufen. Ich habe schon als 16-Jährige gesagt: Wer mich nicht mag, wie ich bin, der kann mir gestohlen bleiben. Erst als ich vor acht Jahren selber an Brustkrebs erkrankte und operiert wurde, habe ich begriffen, wie stark dieser Druck ist und dass auch ich abhängig von den Schönheitskriterien bin. Ich hatte einfach nur Glück, dass ich lange ohne Schminke ins Schema passte.

Zurück zu Sex und Crime. Dora, die 56-jährige Protagonistin, geht in Ihrem Buch mit einem halb so alten Hallodri ins Bett. War das ein Zugeständnis ans Genre?

Gar nicht. Das Problem dahinter entspringt genauso der Realität. Sagen Sie mir, welche Möglichkeiten Frauen über 50 haben, einen gleichaltrigen Mann zu finden? Ältere Frauen hätten gerne ebenbürtige Partner. Diese wollen aber lieber Jüngere. Gott sei Dank gibt es auch jüngere Männer, die ältere Frauen attraktiv finden.

So ein Krimi besteht jedoch neben Sex und Begehren auch aus anderen Facetten. In Ihrem Buch ist die Brustkrebsthematik die soziale Plattform.

Das war der Anlass. Aber Brustkrebs und Schönheitsbilder hängen zusammen. Durch meine Brustoperation habe ich kapiert, wie allgegenwärtig und um wie viel verheerender, als ich je gedacht hätte, das Schönheitsparadigma ist.

Haben Sie sich nach der Operation selbst nicht mehr schön gefunden?

Es ist einfach eine Irritation, wenn Sie die Narbe sehen. Und Sie sehen die Narbe jeden Tag. Bei Krebsarten im Innern des Körpers kann man sich darüber hinwegtäuschen. Aber bei einer Brust, die weg ist oder die kleiner ist, geht das nicht. Damit ist man ständig konfrontiert. Ein Versuch, das zu bewältigen, ist der chirurgische Brustaufbau. Dann ist das kaschiert. Gar nicht weil sie Böses wollen, sagen Mamma-Chirurgen der Frau, dass ihr am besten geholfen sei, wenn es so aussähe wie vorher. Die Ärzte glauben das selbst, weil sie sich im Einklang mit der Gesellschaft wähnen.

Und sieht es so aus wie vorher?

Von Frauen, die ich kenne und die das haben machen lassen – für mich hat sich die Frage nicht gestellt –, weiß ich, dass es bei Weitem nicht so aussieht. Außerdem drückt das Implantat. Eine schlimme Sache ist zudem, wenn die Brustwarze nicht wiederverwendet werden konnte. Dann werden mitunter Teile der Schamlippen weggeschnitten, um damit eine Brustwarze zu rekonstruieren. Eine Transplantation mit sehr gutem Erfolg, wie einem immer wieder gesagt wird. Stimmt auch, sieht so ähnlich aus. Was lassen Frauen noch alles mit sich machen? Und das in so einer Situation, wo sie aufwachen und sich sagen müssten: Jetzt ist Schluss, jetzt gucke ich, was ich will.

Kennen Sie Betroffene, die sich die Brustwarze auf diese Weise haben rekonstruieren lassen?

Ja.

Die schon verletzten Frauen fügen sich noch solche Verletzungen zu?

Wenn nicht von den Schamlippen, dann vom Rücken oder Oberschenkel. Trotzdem gibt es natürlich Frauen, die sagen, ich bin froh, dass ich es habe machen lassen. Das finde ich auch okay. Ich will nicht sagen, das darfst du nicht. Aber Frauen müssen sich im Klaren sein, warum sie sich auf so etwas einlassen. Sie sollen ihre Bedürfnisse kennen. Und sie sollen wissen, dass das Ergebnis nicht dem Original entspricht.

Zurück zum Krimi. Macht die Mehrheit der Leserschaft nicht sofort einen Bogen um ihr Buch, egal wie spannend, wenn sie lesen, dass er mit Brustkrebs zu tun hat?

Kann schon sein. Ich hab auch einen Bogen um das Thema gemacht, solange ich nicht betroffen war. Jede denkt natürlich, es trifft sie nie.

Dabei schreiben Sie, dass jede achte Frau in Deutschland im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs erkrankt. Vor zwei Jahren war es, was die Sache nicht besser macht, noch jede Neunte?

Erschreckend sind die Zahlen so oder so. Man mag sich nicht damit beschäftigen, weil sich der Krebs an einer Stelle zeigt, die eine Frau als Frau erkennbar macht.

Haben Sie das Gefühl, dass Sie als Brustkrebsbetroffene identifizierbar sind?

Nein. Aber, abgesehen von der Todesangst, die alle Krebspatienten trifft, ist das Körperbild nach der Operation ein totaler Schock. Damit muss man sich auseinander setzen. Wenn ich das sofort wieder zukleistere, dann hab ich nicht die Chance, es zu bewältigen.

Haben Sie sich damals auch so offensiv damit beschäftigt, wie Sie es heute tun?

Ja. Als ich krank war, lag mein Vater im Sterben. Er hatte ebenfalls Krebs. Meine Familie musste sich dauernd entscheiden, zu wem sie geht. Ich war ziemlich allein, auch noch neu in Berlin. Das war vielleicht mein Glück, denn ich musste mir andere Hilfe suchen.

Wo haben Sie die gefunden?

Bei Ärzten, in alternativen Medizinkreisen, in Selbsthilfegruppen, bei Therapien. Außerdem fing ich an, die Brustkrebsinitiative zu unterstützen. Man geht immer weiter, wenn man das Glück hat, offen zu sein. Ich hatte damals meinen jetzigen Lebensgefährten schon, aber man kann das einem Menschen allein nicht alles aufbürden. Wichtig ist der Austausch mit anderen Betroffenen.

Im Verdacht, den Chirurgen ermordet zu haben, stehen Frauen aus einer Selbsthilfegruppe, die sich organisiert haben und stark an die Berliner Initiative Betroffener erinnert.

Ich hatte Kontakte zu dieser Gruppe. Ich konnte zwar nicht so oft mitarbeiten, das ging gesundheitlich nicht. Aber da haben, wie ich es im Buch beschreibe, auch gesunde Frauen mitgemacht, die das ganze Thema politisch vorangebracht haben.

Sie haben Brustkrebs und die Auseinandersetzung mit dem Frauenbild in ihrem Krimi an Frauen unterschiedlicher Altersstufen exemplifiziert.

Die Jüngsten im Buch sind Anfang 30. Das entspricht der Realität. Man glaubt es nicht, aber es ist so. Die meisten Todesfälle von Frauen unter 49 Jahren gehen auf Brustkrebs zurück.

Sehen Sie die Abhängigkeit von den Schönheitsidealen, die die Frauen veranlassen, sich gar zusätzlich zu verstümmeln, auch bei den Jüngeren?

Ich hatte angenommen, dass die Töchtergeneration sich davon frei machen könnte, aber das Bild in den Medien spricht dagegen. Und die Kinder- und Babyfalle schnappt, wie man im Prenzlauer Berg sehen kann, auch wieder zu. Wahrscheinlich sind die heutigen jungen Frauen noch schlimmer dran, weil Schönheitsoperationen, Korrekturen heißt das ja, sowas wie Mainstream geworden sind.

Verwirrend wird es, wenn Frauen das alles auf sich nehmen, obwohl sie nicht wissen, ob sie Langzeitüberlebende sind.

Bei allen Fragen außer dem Aussehen ist sowas wie Zukunft ausgeklammert. Man macht keine langfristigen Pläne, nicht mal mittelfristige. Man ist von jedem Laborbefund abhängig. Man wird wahnsinnig vor Angst, was jetzt wieder kommt.

Haben Sie die Angst immer noch?

Sie wird geringer, aber ganz verlässt sie einen nicht. Man sieht Frauen, die zwanzig Jahre überlebt haben. Man sieht vor allen Dingen, wie viele betroffen sind. Das wusste ich vorher auch nicht, weil darüber nicht gesprochen wird. Ich würde mir wünschen, dass die Angst der Frauen durch die Lektüre des Buches verschwindet.

Okay, Sie haben alles im Buch drin: weibliche Attraktivität, Depression, Angst vor dem Tod, Verrat durch die Männer …

… nein, Verrat durch die Männer doch nicht.

Na ja, wenn ich an den Plot denke. Oder an die Figur der Sekretärin und jene der Witwe, die unter Mordverdacht steht. Alles Frauen über 50.

Das sind diese Opfer der Adenauer-Ära. Aufgewachsen mit dem Diktum, du heiratest ja doch, du brauchst als Frau keinen Beruf zu haben. Ich wäre dem Schicksal selbst fast nicht entgangen. Ich will diese Frauenfiguren einfach zeigen. Die werden sonst vergessen. Das wissen heutige Dreißigjährige gar nicht mehr, dass man damals noch Schulgeld bezahlen musste und dass es bei Mädchen oft als herausgeworfenes Geld galt.

Es gelingt Ihnen, alle Facetten spannend zu verweben. Trotzdem die Frage: Wollten Sie einen Krimi schreiben oder einen Ratgeber für Betroffene?

Letzteres auf gar keinen Fall. Haben Sie den Eindruck?

Vorher sagten Sie, Sie hofften, dass Frauen durch die Lektüre die Angst verlieren.

Optimal ist ja, wenn man sich bei der Auseinandersetzung mit so einem Thema auch noch unterhalten lassen kann. Aber letztlich habe ich das Buch geschrieben, weil ich es schreiben wollte. Krimis sind eine ausgesprochen gute Plattform, um Tabus zu brechen und Themen aufzugreifen, die gern unter den Teppich gekehrt werden. Wie Brustkrebs eben. Im günstigsten Fall erschließt sich über die Lektüre ein Publikum, das sich sonst damit nicht beschäftigen würde.