Ins Blaue berechnet

VERFASSUNGSGERICHT Richter fordern eine Neuberechnung, die Politik hat dabei viel Freiraum

Kinder bekommen Geld für Tabak und Alkohol zugestanden, aber keins für Schulhefte und Stifte

AUS KARLSRUHE CHRISTIAN RATH

Die Hartz-IV-Sätze für Erwachsene und Kinder sind verfassungswidrig. Das entschied am Dienstag der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts. Die Höhe der Sozialleistung muss jetzt neu berechnet werden. Ob dies am Ende zu einer Erhöhung der Hartz-Sätze führt, muss die Politik entscheiden. Karlsruhe hat hierzu keine Vorgaben gemacht. Die Neuregelung soll ab Januar 2011 gelten.

Derzeit bekommen erwachsene Hartz-IV-Empfänger 359 Euro Arbeitslosengeld II (ALG II) pro Monat, Paare je 323 Euro, Kinder erhalten je nach Alter zwischen 215 und 287 Euro Sozialgeld. Hinzu kommen die Zuschüsse für Miete, Heizung und Sozialversicherung.

Ein neues Grundrecht

Als Maßstab für die Prüfung entwickelten die Verfassungsrichter ein neues Grundrecht: das „Recht auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums“. Sie stützten es auf die Menschenwürde (Artikel 1 Grundgesetz) und auf das Sozialstaatsprinzip (Artikel 20). Eine konkrete Summe lasse sich aus dem Grundgesetz aber nicht ableiten, so die Richter. Vielmehr müsse der Gesetzgeber das Existenzminimum per Gesetz „konkretisieren“. Und weil es dabei nicht nur um Nahrung und Kleidung, sondern auch um soziale Teilhabe geht, wird dem Bundestag hier ein großer „Gestaltungsspielraum“ zugebilligt. Ob etwa eine Zeitung zum sozialen Existenzminimum gehöre oder der Fernseher oder beides, das müsse der Gesetzgeber entscheiden.

Auch bei der Auswahl der Rechenmethode hat der Bundestag weitgehend freie Hand. Ob er das Existenzminimum wie früher anhand eines Warenkorbs bemisst oder ob er – wie seit 1989 – die tatsächlichen Ausgaben einer Vergleichsgruppe untersucht, kann er frei entscheiden. Allerdings muss er die gewählte Methode konsequent und transparent umsetzen.

Anhand dieses Maßstabs kamen die Richter zu dem Schluss, dass die Hartz-Sätze derzeit „nicht evident unzureichend“ sind. Deshalb muss weder das ALG II für Erwachsene noch das Sozialgeld für Kinder sofort erhöht werden.

Vorgeworfen wird dem Bundestag jedoch, dass er bei der Berechnung Fehler gemacht hat, vor allem bei der Berechnung des Sozialgeldes für die Kinder. Bisher bekamen Kinder – je nach Alter – nur 60 bis 80 Prozent des Hartz-Satzes für Erwachsene. Dies führte dazu, dass ihr abgeleiteter Satz rechnerisch zwar Ausgaben für Tabak und Alkohol enthält, aber keine für Schulhefte, Stifte und Nachhilfestunden.

Das fanden die Richter abwegig. „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“, heißt es im Urteil. Der Gesetzgeber muss nun den spezifischen Bedarf von Kindern und Jugendlichen feststellen. Vor allem bei Schulkindern nehmen die Richter einen „altersspezifischen Bedarf“ an. Immerhin hat der Bundestag schon im letzten Sommer den Hartz-Satz für 7- bis 14-Jährige um zehn Prozentpunkte, rund 35 Euro, erhöht. Außerdem erhalten Schulkinder seitdem 100 Euro pro Jahr für Schulmaterialien. Die Richter hat Letzteres aber nicht befriedigt. Die 100 Euro seien „offensichtlich freihändig geschätzt“ und nicht solide berechnet.

Schulhefte vom Bund

Die Bundesregierung hatte in der mündlichen Verhandlung erklärt, für Bildungsausgaben seien die Länder zuständig, deshalb seien im Sozialgeld keine Ausgaben für den Schulbedarf von Kindern enthalten. Das ließen die Richter aber nicht gelten. Die Finanzierung von Schulheften sei eine Fürsorgeleistung und damit Aufgabe des Bundes.

Bei den Hartz-Sätzen für Erwachsene muss nicht völlig neu gerechnet werden. Im Prinzip wurde die angewandte Rechenmethode vom Verfassungsgericht gebilligt. Derzeit wird der Hartz-Regelsatz anhand der Einkommens- und Verbrauchsstudie (EVS) des Statistischen Bundesamts berechnet. In der EVS wird alle fünf Jahre anhand von 75.000 repräsentativen Haushalten untersucht, was die Deutschen tatsächlich ausgeben und konsumieren. Der Hartz-IV-Satz für einen Erwachsenen bemisst sich danach, was die ärmsten 20 Prozent der Single-Haushalte verbrauchen, die nicht Hartz IV beziehen.

Die Hilfsorganisation Caritas hatte bemängelt, dass die Vergleichgruppe zu viele „versteckte Arme“ enthalte, die wegen niedriger Löhne selbst das Existenzminimum nicht erreichen, aber zu stolz seien, Sozialleistungen zu beziehen. Die Richter hielten die Vergleichsgruppe dennoch für geeignet, solange es nur vage Schätzungen über den Umfang der versteckten Armut gebe.

Kritisiert wird von den Verfassungsrichtern jedoch, dass die Ausgaben der Vergleichsgruppe nur mit schwer nachvollziehbaren Abschlägen in den Hartz-IV-Satz umgerechnet wurden. So gab es ursprünglich Abschläge für Pelzkleidung und Segelflugzeuge, ohne jeden Nachweis, dass die Vergleichsgruppe überhaupt Geld für solch einen Luxus ausgibt. Ab 2007 unterblieben solche Abschläge „ins Blaue hinein“, sie wurden im Urteil aber noch kritisiert, weil sich die zu entscheidenden Streitfälle auf das Jahr 2005 bezogen. Kleinere Unstimmigkeiten, etwa bei Ausgaben für den Verkehr, sind aber noch heute in den Regelsätzen enthalten.

Der Gesetzgeber muss nun ALG II und Sozialgeld bis Ende des Jahres neu berechnen. Bis dahin gelten die aktuellen Hartz-IV-Sätze weiter. Auch die Kläger in den drei vom Verfassungsgericht geprüften Verfahren bekommen trotz der erfolgreichen Klage zunächst keinen Cent zusätzlich. Nachzahlungen für die Vergangenheit, auf die manche Initiative spekuliert hatte, gibt es natürlich erst recht nicht.

Ab sofort Zusatzhilfe

Allerdings können Hartz-IV-Empfänger, die dauerhaft außergewöhnliche Belastungen haben, ab sofort eine Zusatzhilfe beantragen. Gedacht ist etwa an einen chronisch Kranken, der viele oder teure Medikamente braucht, die die Krankenkasse jedoch nicht bezahlt. Die Verfassungsrichter gehen allerdings davon aus, dass dieser Zusatzanspruch nur „in seltenen Fällen“ geltend gemacht werden kann. Zunächst sollen die Hartz-IV-Bezieher versuchen, bei ihren sonstigen Ausgaben zu sparen. Außerdem gebe es für einmalige Belastungen ja auch noch die Möglichkeit, ein Darlehen vom Staat zu erhalten. In dieser Frage wird vermutlich viel neue Arbeit auf die deutschen Sozialgerichte zukommen.

Aktenzeichen: 1 BvL 1/09 u. a.