Pamuk-Verfahren eingestellt

Weil sich das türkische Justizministerium im Verfahren gegen den Schriftsteller Orhan Pamuk nicht zuständig erklärte, wird der Prozess eingestellt. Ähnliche gehen weiter

ISTANBUL taz ■ Der Prozess gegen den türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk ist eingestellt. Wie das zuständige Gericht des Istanbuler Bezirks Sisle dem Anwalt Pamuks schriftlich mitteilte, hat es die Einstellung beschlossen, nachdem das Justizministerium sich in der Sache erneut für unzuständig erklärt hatte. Nach einer ersten Verhandlung am 16. Dezember hatte sich das Gericht bis zum 7. Februar vertagt, um dem Justizministerium Zeit zu einer Stellungnahme zu geben. Dieser Prozesstag findet nun nicht mehr statt.

Orhan Pamuk war wegen „Beleidigung des Türkentums“ nach Paragraf 301 des auf Drängen der EU erst im letzten Jahr erneuerten Strafgesetzbuches angeklagt worden. Die Anklage gegen den prominenten Schriftsteller und Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels hatte in Brüssel für massive Verärgerung gesorgt. EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn sah das Recht auf Meinungsfreiheit in der Türkei nicht gewährleistet und forderte die Einstellung des Verfahrens gegen Pamuk samt einer Nachbesserung des Strafgesetzbuches, damit solche Verfahren künftig erst gar nicht mehr eröffnet werden können.

Die EU-Kommission und die vielen Unterstützer Pamuks haben also einen ersten Erfolg errungen. Ob dies lediglich eine Konzession an den internationalen Druck ist, der dem prominenten Pamuk zugute kam, wird man bald sehen. Noch im Februar sollen die Verfahren gegen vier Journalisten beginnen. Sie hatten kritisiert, dass ein Gericht, das per einstweiliger Verfügung eine kritische Armenienkonferenz verbieten wollte, sich anmaßt, die Qualität wissenschaftlicher Forschung zu beurteilen. Wie auch gegen Pamuk ging das Verfahren auf Kemal Kerincsiz zurück, den Vorsitzenden einer ultranationalistischen Juristenvereinigung. Er hatte das Verfahren wegen „Herabwürdigung der Justiz“ angestrengt.

Darüber hinaus sind etliche weitere Verfahren gegen Journalisten, Schriftsteller und Professoren anhängig – alle wegen Meinungsäußerungen im Zusammenhang mit der Debatte um den Völkermord an den Armeniern oder der türkischen Minderheitenpolitik insgesamt. Seit über einem Jahr ist die Armenierfrage zum Hauptfeld der Auseinandersetzung zwischen Nationalisten und liberalen Kreisen geworden. Da immer mehr Leute die offizielle Haltung des türkischen Staates kritisieren, es habe nie ein Verbrechen an den Armeniern gegeben, haben die Nationalisten die Justiz als letzte Waffe entdeckt.

Jetzt zeigte sich, dass Gesetzesänderungen allein noch keine Änderungen im Bewusstsein bewirken. Viele Richter sind nach wie vor überzeugt, sie müssten den Staat vor Kritikern schützen, und legen die Grenze zwischen zulässiger Kritik und Beleidigung oder Herabwürdigung des Türkentums, des Staates oder des Militärs entsprechend eng aus.

Das können sie auch deshalb, weil sich die Regierung ihrerseits sehr ambivalent verhält. Während Ministerpräsident Tayyip Erdogan, der Ende der 80er-Jahre selbst wegen eines Meinungsdelikts im Gefängnis saß, allgemein immer betont, abweichende Meinungen dürften nicht kriminalisiert werden, nimmt sein Justizminister Cemil Cicek die eifernden Staatsschutzrichter regelmäßig in Schutz.

Auch im Fall Pamuk hatte Cicek sich wochenlang geweigert einzugreifen, obwohl das Gericht ihn bereits vor der Eröffnung der Verhandlung gegen Pamuk im Dezember dazu aufgefordert hatte. Bis zuletzt wollte er nicht persönlich für die Einstellung des Verfahrens verantwortlich sein, sondern hat die Entscheidung immer wieder dem Gericht zugeschoben.

Für Saner Yurdatapan, Sprecher der Initiative Freedom of Expression, ist das ein klares Indiz, dass Cicek mit der Einstellung des Verfahrens gegen Pamuk kein Signal für mehr Meinungsfreiheit geben wollte. „Für die anderen Angeklagten bedeutet das nichts“, ist er sich deshalb sicher.

JÜRGEN GOTTSCHLICH

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