Ein Streifen ohne Hoffnung

Gaza ohne israelische Truppen, aber abgeriegelt: Was die Menschen suchen und nicht finden, ist Arbeit. Ihre verzweifelte Situation nützt den Islamisten

„Man kann uns nicht ein Stück Land geben, die Tür zusperren und sagen: Seht, wie ihr zurechtkommt“

AUS GAZA KARIM EL-GAWHARY

„Eigentlich sind das Wahlen in einem riesigen Gefängnis“, lautet Yussufs Kommentar zu den palästinensischen Parlamentswahlen im Gaza-Streifen. Yussuf ist einer von vielen dort, bei denen keine rechte Aufbruchstimmung aufkommen mag rund um Wahlen, die morgen erstmals ohne israelische Präsenz stattfinden. Truppen und Siedler sind seit vier Monaten abgezogen. Doch die erste Euphorie ist längst der Ernüchterung gewichen.

Es ist drei Tage her, dass Yussuf seinen 23. Geburtstag gefeiert hat. Heute hängt er wie so oft in seiner schwarzen Lederjacke und seiner schwarzen Baseballkappe mit dem Al-Aksa-Brigaden-Logo mit seinen Freuden an einer der Straßenkreuzung im palästinensischen Flüchtlingslager Rafah herum und wartet auf die nächste „Versammlung“, wie er die regelmäßigen Treffen der Ortsgruppe der Aksa-Brigaden nennt. „Dort diskutieren wir über die Wahlen und bekommen Anweisungen, in welcher Straße wir Plakate kleben oder für Ordnung sorgen sollen“, erzählt er. Sie haben zumindest im Moment alle Hände voll zu tun. Seine Fatah-Organisation, der die Aksa-Brigaden zugehören, und die islamistische Hamas liefern sich im Gaza-Streifen ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

Wie zwei von drei Jugendlichen im Lager ist Yussuf arbeitslos. „Es hat auch keinen Zweck, eine Arbeit zu suchen, hier gibt es keine“, sagt er. Von der Bewegung, wie er die regierende Fatah-Organisation nennt, bekommt er monatlich einen symbolischen Betrag dafür, dass er mit seiner Kalaschnikow auf den Straßen Rafahs „für Ordnung sorgt“.

Gerade Yussuf und seine Freunde sind einer der größten Unsicherheitsfaktoren im Gaza-Streifen, wo inzwischen niemand mehr die vielen Al-Aksa-Ortsgruppen kontrolliert, von denen einige auch für die Entführungen von Ausländern verantwortlich sind, die aber allesamt unversehrt freigelassen wurden. Dabei ging es meistens darum, eine feste Anstellung bei den palästinensischen Behörden zu erpressen „Wir sind hier nicht im Irak. Das waren Fünf-Sterne-Entführungen, was die Geiseln angeht“, erklärt Yussuf dazu, fügt aber gleich hinzu, dass er gegen die Verschleppung von Ausländern sei. Ironischerweise sind es gerade die außer Kontrolle geratenen Aksa-Brigaden, die viele Wähler abwägen lassen, ob sie nicht der wesentlich disziplinierteren Hamas ihre Stimme geben sollen.

Seit die israelischen Truppen aus dem Gaza-Streifen abgezogen sind, haben Yussuf und die Seinen ihre Bestimmung verloren. „In Teilen des Gaza-Streifens herrscht eine regelrechte Anarchie mit den bewaffneten Gruppen, die vorher mit der Intifada beschäftigt waren und heute versuchen, die überflüssige Intifada-Strukturen aufrechtzuerhalten“, erläutert der Politökonom Fawaz Abu Seta. Natürlich gebe es auf der einen Seite seit dem Rückzug der Israelis eine spürbare Verbesserung, sag er: „Man kann sich innerhalb des Gaza-Streifens frei bewegen und ist nicht mehr der täglichen Willkür der israelischen Armee ausgeliefert.“ Doch die Hoffnungen auf Wirtschaftsaufschwung wurden von Enttäuschung abgelöst: „Die Leute können sich heute zwar frei im ganzen Gaza-Streifen auf der Suche nach Arbeit bewegen, Arbeit finden sie deswegen aber noch lange nicht.“ Ohne israelische Besatzung treten die wirtschaftlichen Probleme in den Vordergrund.

Nirgends ist das deutlicher als vor der Zentrale der UNRWA, jener UN-Organisation, die für die Belange der palästinensischen Flüchtlinge zuständig und nach den palästinensischen Behörden der zweitgrößte Arbeitgeber im Gaza-Streifen ist. Hunderte Menschen drängen sich jeden Tag vor dem blauen Tor. „Wenn wir eine Stelle für einen Straßenkehrer oder einen Nachtwächter ausschreiben, haben wir oft über 500 Bewerbungen“, berichtet der UNRWA-Pressesprecher Jamal Hamam. Während einst über 100.000 palästinensische Arbeiter die Genehmigung hatten, in Israel zu arbeiten, seien es heute weniger als 1.000, erklärt er. In Gaza gibt es keinen Ersatz für die verlorenen Arbeitsplätze.

Der Wirtschaftsexperte Saleh Abdel Schafi schätzt die Arbeitslosenrate im Gaza-Streifen auf 45 bis 60 Prozent. Laut Weltbankstatistik leben 70 Prozent der Familien unter der Armutsgrenze von 2 Dollar pro Tag und Person. Dazu komme, dass Israel weiter den Warenverkehr kontrolliert und die Zölle festlegt, die dann an die palästinensischen Behörden abgeführt werden. Das führe dazu, dass das Preisniveau in Israel und im Gaza-Streifen das gleiche ist, „mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Israelis im Schnitt 22-mal mehr verdienen.“ Die Investitionen gehen seit dem Abzug der Israelis gegen null. „Die Geldgeber sagen, sie werden nur investieren, wenn sich die Sicherheitslage verbessert, die wiederum kann sich aber nur verbessern, wenn Geld in den völlig desolaten Gaza-Streifen fließt“, schildert Abdel Schafi den Teufelskreis. Von der Wirtschaftskrise profitieren vor allem die Islamisten wie Hamas, warnt er.

Er wehrt sich gegen jene, die nun hämisch mit dem Finger auf die Palästinenser deuten, die nach der israelischen Besatzung nicht anderes als Chaos produzieren. „Diese Logik stimmt nur, wenn man uns einen lebensfähigen Staat gibt. Man kann uns nicht einen überbevölkerten Streifen geben, der traditionell vom Handel mit dem Westjordanland, mit Ägypten und Israel abhängig ist, die Türe zusperren und dann sagen, schaut, wie ihr zurechtkommt“.

Der 41-jährige Majed Hadayed ist ein palästinensischer Unternehmer, der so vermessen war, im Gaza-Streifen sein Geld zu investieren. Auf acht Hektar Land lässt er von 115 Arbeitern Schnittblumen für den europäischen Markt anbauen. Aber seit 14 Tagen ist Karni, der einzige Grenzübergang für den Warenverkehr aus dem Gaza-Streifen, von den Israelis geschlossen. In Hadayeds Kühlhaus dämmern eineinhalb Millionen Blumen im Wert von 350.000 Dollar dem Verfallsdatum entgegen. Normalerweise braucht die Blume nach dem Schnitt in Gaza nur drei Tage, bis sie auf der niederländischen Blumenbörse feilgeboten wird. „Die Arbeit von mehreren Monaten rottet nun vor sich hin“, sagt der Blumenproduzent aufgebracht. „Das einzige, was wir im Gaza-Streifen haben, sind ungelernte Arbeiter und Landwirtschaftsprodukte. Die einen können nicht raus zum Arbeiten, und die anderen können nicht exportiert werden. Wenn es so weitergeht, dann sind wir bald am Ende“, lautet seine einfache Schlussfolgerung.

Dann lädt er zu einem kurzen Besuch hinter den langen Reihen der Gewächshäuser. Der zuvor laute und wutentbrannte Unternehmer wird plötzlich still und in sich gekehrt. Auf einem halben Dutzend welkender Haufen sind dort jene Blumen zusammengerecht, deren Verfallsdatum überschritten ist. Eine Gruppe Ziegen knabbert genüsslich. Die Viecher haben keine Ahnung, wie kostbar ihr Futter eigentlich ist.