Einigung auf Spaltung

EUROPÄER Nach langer Beratung beschließt die EU, dass sie uneins ist: Jeder kann selbst entscheiden, ob er Waffen nach Syrien liefert

■ Israel hat Russland vor der Lieferung moderner Luftabwehrraketen an Syrien gewarnt. Die Regierung wisse, „was zu tun ist“, wenn Moskau Syriens Machthaber Assad mit den Raketen ausrüste, sagte Verteidigungsminister Mosche Jaalon. Zuvor hatte Russlands Vize-Außenminister Sergej Riabkow den Rüstungsauftrag als „Stabilisierungsfaktor“ bezeichnet, da die Waffen andere Länder vor einer Einmischung abschrecken würden. Die Boden-Luft-Raketen vom Typ S-300 können Kampfflugzeuge oder Marschflugkörper abfangen und israelische Angriffe auf mutmaßliche Waffenlieferungen für Hisbollah stoppen.

■ Die Aufhebung des Waffenembargos sei ein „Fehler“ der EU, so Riabkow. Moskaus Botschafter bei der Nato, Alexander Gruschko, warnte vor Militärhilfe für die Opposition. „Damit wird nur Öl ins Feuer gegossen.“ (afp, dpa)

AUS BRÜSSEL ERIC BONSE

Niemand plant die Lieferung von Waffen nach Syrien. Dieser Satz findet sich tatsächlich im Beschluss der EU-Außenminister, allerdings mit einem entscheidenden Zusatz: „derzeit“. Erst ab 1. August dürfen Großbritannien und Frankreich die syrische Opposition aufrüsten – zunächst wollen die Europäer den Ausgang der geplanten Friedenskonferenz in Genf abwarten.

Es ist eine der vielen kleinen Kompromisse und Zweideutigkeiten, auf die sich die Chefdiplomaten der 27 EU-Staaten am Montag nach 12-stündiger chaotischer Debatte geeinigt haben. Das Gesicht wurde gewahrt, doch in der Substanz hat die Europäische Union eine Kehrtwende vollzogen. Das Waffenembargo ist gefallen, ab sofort kann jedes EU-Land in Syrien tun und lassen, was es will.

Zwar hat die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton noch ein paar Sicherungen eingezogen. So sollen nur Waffen „zum Schutz der Zivilbevölkerung“ geliefert werden – und auch nur dann, wenn sie nicht zur Unterdrückung benutzt werden. Die EU-Staaten hätten sich zu strikten Kriterien verpflichtet, sagte Außenminister Guido Westerwelle, der sich mit Ashton um eine Vermittlung bemüht hatte.

Doch sie konnten nicht verhindern, dass Österreich vorpreschte – und die Verhandlungen vorzeitig für beendet erklärte. Außenminister Michael Spindelegger, ein entschiedener Gegner der Waffenlieferungen, hatte wutentbrannt den Verhandlungssaal geräumt, weil er nicht mit ansehen wollte, wie Großbritannien und Frankreich dem Rest der EU-Staaten ihren Willen aufzwangen.

Beinahe wäre deshalb das gesamte Sanktionsregime geplatzt. „Es stand Spitz auf Knopf“, berichtete Westerwelle. Nur mit Mühe und Not gelang es noch, wenigstens die Wirtschaftssanktionen gegen Syrien zu verlängern. Doch den Eindruck, dass es keine gemeinsame europäische Syrien-Politik mehr gibt, konnten sie nicht mehr aus der Welt schaffen. „Das ist das Ergebnis, das wir wollten“, frohlockte der britische Außenminister William Hague nach dem Ende der Nachtsitzung. „Wir haben keine unmittelbare Absicht, Waffen nach Syrien zu schicken“, fügte er hinzu. „Das gibt uns aber die Flexibilität, in Zukunft zu reagieren, sollte sich die Situation verschlechtern.“

Viele Partner werden die Briten dabei nicht haben. Außer Frankreich ergriff kein einziges EU-Land Partei für die umstrittenen Waffenlieferungen. Deutschland will ebenso wenig mitziehen wie Österreich, das sogar den Abzug seiner Blauhelm-Soldaten auf den Golanhöhen erwog. Außenminister Spindelegger sagte, man bewerte die Lage in dem Spannungsgebiet jeden Tag neu. Derzeit gebe es jedoch keinen Anlass, „sich morgen zurückzuziehen“.

„Es stand Spitz auf Knopf“, sagt Deutschlands Außenminister Westerwelle. „Das ist das Ergebnis, das wir wollten“, sagt sein britischer Kollege

Damit ergibt sich ein ähnliches Bild wie vor zwei Jahren m Fall Libyen: Damals war es Frankreich, das vorpreschte, und Großbritannien, das halbherzig mitzog. Die meisten anderen EU-Länder hielten sich genau wie jetzt in Syrien abseits. Deutschland stand damals sogar auf der Bremse, was sich im Nachhinein aber als Fehler erweisen sollte.

„Wir haben jetzt nach Libyen und Mali die dritte große Krise, in der Europa gespalten ist, weil es die Mitgliedstaaten nicht schaffen, sich zusammenzuraufen und eine gemeinsame Linie zu beschließen“, kritisierte der EU-Parlamentarier Alexander Graf Lambsdorff (FDP). Es sei „unverantwortlich und gefährlich“, dass das Waffenembargo nicht verlängert wurde, sagte die Chefin der Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms. In Syrien drohe nun ein „Stellvertreterkrieg“ der Großmächte.

Zunächst sollen jedoch die Diplomaten sprechen – auf der Friedenskonferenz in Genf. Die Drohung mit Waffenlieferungen könnte den Druck auf den syrischen Alleinherrscher Baschar al-Assad erhöhen und ihn an den Verhandlungstisch zwingen, hoffen Diplomaten. So gesehen, hätte die neue Linie der EU sogar ihr Gutes. Viel mehr als eine Hoffnung ist das bisher allerdings nicht.