Wenn Teenage Angst zur Handlung wird

AMOK Junge Männer in der Krise finden heute Übertragungsangebote überall in Film, Fernsehen und Internet. Eine Filmreihe zu „School Shooters“ in der Galerie Vierte Welt zeigt fiktive Filme, Dokus und Videos von Tätern

Die Fiktionalitätsschranke gehört zum Kernbestand des kulturellen Lernens

VON BERT REBHANDL

Wenn man dieser Tage Leonardo DiCaprio als „Der große Gatsby“ im Kino sieht, dann fällt es nicht mehr ganz leicht, ihn in Beziehung zu setzen zu dem drogensüchtigen Jim Carroll, den er in einer frühen Phase seiner Karriere in dem Film „The Basketball Diaries“ gespielt hat. Für diese Rolle musste DiCaprio alle Register von „Teenage Angst“ und „Teenage Rage“ aufrufen, die ihm in jungen Jahren zur Verfügung standen. Er tat dies so erfolgreich, dass der Film auf eine prekäre Weise Vorbildwirkung erhielt. Eine (imaginierte) Szene, in der Jim Carroll ein Klassenzimmer in seiner Schule betritt und wahllos um sich schießt, gilt als Inspiration für das sogenannte Columbine High School Massacre, bei dem die beiden amerikanischen Teenager Dylan Klebold und Eric Harris 1999 zwölf Schüler und eine Lehrkraft an ihrer High School in Colorado erschossen. Sie hatten sich besonders auch für den langen, dunklen Mantel begeistert, den Carroll in dieser Szene trug – ein latentes Zitat der Gunman-Tradition aus dem Westerngenre, in dem Selbstjustiz ein zentrales Thema ist.

Die auch davor schon virulenten Diskussionen um die potenzielle Wirkung von massenmedialen Gewaltdarstellungen wurden danach mit neuer Intensität geführt. Eine Veranstaltungsreihe in der Galerie Vierte Welt in Kreuzberg widmet sich diesem Thema von diesem Donnerstag an in Form einer Filmreihe, wobei zu den relevanten Spielfilmen jeweils Videos, Lesungen, Vorträge und Diskussionen hinzukommen. André Grzeszyk und Simon Kleinschmidt haben „Amok“ kuratiert, für den ersten Abend haben sie mit Joseph Vogl gleich einen hochkarätigen Gast gewonnen. Gezeigt wird „The Sniper“ (1952) von Edward Dmytryk, ein Film Noir, in dem Arthur Franz einen Außenseiter in San Francisco spielt, der irgendwann beginnt, die Zurückweisung, die er von Frauen erlebt, mit Waffengewalt zu beantworten. Dmytryks Scharfschütze wird in Beziehung zu Charles Whitman gesetzt, einem „Campus Shooter“, der 1966 vom Turm der University of Texas in Austin aus 15 Menschen tötete und mehrere Dutzend weitere verletzte.

Die Suggestion, die hinter der Reihe „Amok“ steckt, ist unschwer zu erkennen: Hier zeichnet sich eine Entwicklungslinie zunehmender Medialisierung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ab. Psychologische und soziale Probleme treffen auf zahlreiche Identifikationsangebote im Massenmedium Film, später im Fernsehen, inzwischen natürlich auch im Internet. Intensive Übertragungsangebote sind überall zu finden, Größenfantasien führen zu eigener Medienproduktion: das Abschiedsvideo, das Mörder vor ihrer Tat drehen, ist eines der Genres, denen man sich bei „Amok“ widmet. Am 9. Juni wird die Filmwissenschaftlerin Judith Keilbach einen besonders komplexen medialen Feedback-Zirkel analysieren, wenn sie Videos, die Klebold und Harris selbst gedreht haben, mit Bildern in Beziehung setzt, die Überwachungskameras an jenem Tag an der Columbine High School aufgenommen haben. Dazu kommt dann noch Gus Van Sants Spielfilm „Elephant“, eine präzise Fingierung des Ablaufs dieses Tages.

Eine ganze Reihe der Spielfilme, die bei „Amok“ laufen, sind mittlerweile fast schon Stereotype des Problems von Gewaltfaszination und Todessehnsucht geworden. So läuft natürlich auch Oliver Stones „Natural Born Killers“, der heute zwar sehr antiquiert wirkt, aber gerade als Versuch interessant ist, mediale Dispositionen zu der Faszination für den tödlichen Kick in Beziehung zu setzen. Ähnlich kanonisch ist der radikal ambivalente „Fight Club“, in dem das Szenario des privaten Rachefeldzugs (für wie immer überzeichnete Demütigungen) in Terrorismus umschlägt.

Dass Deutschland sich in diesem Zusammenhang längst nicht mehr als Hort gelungener Befriedung und Bildung ausnehmen kann, haben die Taten von Erfurt und Winnenden deutlich gemacht. Auch darauf geht „Amok“ ein, wobei es eben bezeichnend ist, dass unter den Referenzfilmen kein deutscher ist (der Dokumentarfilm „Die Kerzen von Erfurt“ fällt in eine andere Kategorie).

Die gleitenden Übergänge von fantasierten Szenarien zu konkreten Aktualisierungen von Möglichkeiten, die in den Medien vorgefunden und dann adaptiert werden, ergeben insgesamt auch so etwas wie eine Ökologie des globalen Mediensystems, in dem es zu unvermuteten Kurzschlüssen kommen kann. Denn eigentlich gehört die Fiktionalitätsschranke ja zum Kernbestand jenes kulturellen Lernens, das früher einmal mit den Märchen vor dem Einschlafen begann und das nun häufig mit langen Nächten vor dem Computer in die Krise gerät.

■ „Amok! Manifestationen des School Shooters seit Mitte des 20. Jahrhunderts – Filme, Zeugnisse, Gespräche“. 30. Mai–6. Juli, Vierte Welt, Adalbertstr. 4. Programm: amok-film.org