: Eine Geschichte über Größenwahn
KLASSIKER „Metropolis“ wird zum zweiten Mal welturaufgeführt. Ein Grund: Die Macher wurden von ebenjener Hybris ergriffen, von der auch der Film erzählt. Das und mehr zeigt eine Dokumentation (20.15 Uhr, Arte)
VON JENS MÜLLER
Frage: Was haben der 10. Januar 1927 und der 12. Februar 2010 – das ist heute – gemeinsam? Antwort: Die Welturaufführung des Stummfilms „Metropolis“ in Berlin. Und wer sie nicht vor Ort rezipieren kann – im Friedrichstadtpalast oder via Public Viewing am Brandenburger Tor –, der halte sich an den Kultursender Arte. Der zeigt erst Fritz Langs große Großstadt-Dystopie mit der live aus dem Friedrichstadtpalast eingespielten Musik des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin und danach „Die Reise nach Metropolis“.
In seiner Dokumentation geht Artem Demenok der Frage nach, wie denn ein Film zweimal uraufgeführt werden kann. Und das kam so:
Die Hybris, von der „Metropolis“ erzählen sollte, ergriff auch die Macher des Kunstwerks. Hanns Zischler, der Schauspieler, der selbst ein großer Filmkenner ist und hier den Kommentar spricht, bringt es in seinen ersten Sätzen auf den Punkt: „36.000 Komparsen. 1.100 Kahlköpfe. 200.000 Kostüme. 500 bis 600 Wolkenkratzer à 70 Etagen. ‚Metropolis‘, der teuerste Stummfilm der Ufa, Kosten: 5 Millionen Reichsmark. Nur etwas mehr als 75.000 Reichsmark hat der Film 1927 in Berlin eingespielt – eine Katastrophe.“
Die Amerikaner, die den Film kauften, machten kurzen Prozess, der Bühnenautor Channing Pollock kürzte den ursprünglich 4.189 Meter langen Film um mehr als 1.000 Meter: „Bevor ich mit meiner Neufassung eingriff, enthielt ‚Metropolis‘ weder Form noch Logik. Es war Symbolismus in Reinkultur, sodass kein Zuschauer erkennen konnte, worum es überhaupt ging. Ich gab dem Film meinen Inhalt.“ Und mit diesem Inhalt haben ihn dann Generationen von Menschen gesehen, auch in Deutschland. Denn die ursprüngliche Fassung ging bald verloren, alle noch so engagierten Versuche der Rekonstruktion – unter anderem von Enno Patalas – kamen an dieser einen Tatsache nicht vorbei: den fehlenden 1.000 Metern Film.
Und dann, im Jahre 2008, sollte das Wunder geschehen. Nicht auf einem Dachboden, aber so ähnlich, im Museo del Cine in Buenos Aires, tauchte eine „Metropolis“-Kopie auf, die ein argentinischer Filmverleiher noch vor der „Neufassung“ aus Deutschland mitgebracht hatte. Die bald vergessen wurde, im Museum landete. Der einzige Mensch, der einen Verdacht hatte, der Filmhistoriker Fernando Martin Peña, musste diesen 20 Jahre mit sich herumtragen. Die Kopie war schon lange nicht mehr in Gebrauch, aber einer erzählte ihm von der mehr als zweistündigen Vorführung. Das war eine halbe Stunde mehr als die „Neufassung“, konnten das die verschollenen 1.000 Meter sein?
Ein Verdacht, so unglaublich wie der Umstand, dass Peña ihm so lange nicht nachgehen durfte. Die heutige Direktorin des Museo del Cine begründet das lakonisch so: „Vielleicht lag es daran, dass das Museum mehrfach umgezogen ist und der Zugang zur Sammlung nicht immer möglich war.“
Schließlich ging es dann doch, die Deutschen wurden gerufen und revidierten die „Neufassung“, so der Restaurator Martin Koerber, zu einer „neuen Fassung, von der wir hoffen dürfen, dass sie die letzte und definitive ist“. Deshalb gibt es das Paradoxon einer zweiten Welturaufführung, mit einer prächtigen Buchveröffentlichung („Fritz Langs Metropolis“) und mit einer Ausstellung im Berliner Filmmuseum („The Complete Metropolis“). Dort zu sehen ist auch die alte, über und über mit rotem Rost bedeckte Filmdose, in der „Metropolis“ seine stillen Jahre im argentinischen Exil verbracht hat. Demenoks Film zeigt: Im Museo del Cine sehen alle Filmdosen so aus.
Den Fund, das 16-mm-Dupnegativ einer abgenutzten 35-mm-Kopie, nennt Restaurator Koerber „das schlechteste Material, das ich in meinem Leben jemals gesehen habe“. Es ist vermutlich das erste Mal, dass die akribische Mühsal des Filmrestaurierens von einer größeren Öffentlichkeit überhaupt zur Kenntnis genommen wird. Schrammen, Risse, einkopierter Schmutz, Schichtablösungen, wie damit umgehen? Wie sich das Material aus Argentinien in das über die Zeit gepflegte Material einfügt – heute wird man es erfahren.
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