Die Neo-Entsagung

FASTENZEIT Immer mehr Menschen verzichten in den Wochen vor Ostern auf Lüste und Gelüste. Die Renaissance des Fastens ist nicht nur schön

■  Fastenzeit: Die sieben Wochen vor Ostern sind im Christentum die Fastenzeit. Ihr Beginn, der Aschermittwoch, stellt zugleich das Ende des Faschings dar. Ursprünglich war die Adventszeit die zweite Fastenzeit der Christen.

■ Geschichte: Die ältesten Fastenregeln kommen aus Indien und sind 4.000 Jahre alt. Jesus fastete 40 Tage in der Wüste. Im Mittelalter begann das Adventsfasten im November nach dem Martinstag. Vorher gab es noch die Martinsgans.

■ Praxis: Fasten ist Verzicht auf Nahrung. Am jüdischen Jom Kippur gilt völlige Enthaltsamkeit. Im islamischen Ramadan darf nur bei Dunkelheit gegessen werden. Immer ist das Fasten mit geistiger Reinigung verbunden.

VON HEIDI SALAVERRÍA

Mahatma Gandhi hat gesagt: „Ich kann auf das Fasten ebenso wenig verzichten wie auf meine Augen. Was diese für die äußere Welt sind, ist das Fasten für die innere.“ Am Aschermittwoch beginnt wieder die alljährliche vorösterliche Fastenzeit, an der sich gegenwärtig in Deutschland etwa jeder Siebte beteiligt. Dies geht aus einer Forsa-Umfrage hervor.

Ausgelöst wurde das fast schon breitensportartige Fasten durch eine Initiative der evangelischen Kirche, die seit 1983 zu „Sieben Wochen ohne“ aufruft. Der Impuls zur Fastenaktion erwuchs damals dem trinkfreudigen Barbesuch einer Gruppe von Theologen und Journalisten, an dessen Ende die im Laufe des Abends gut mit Spirituosen Versorgten beschlossen, die christliche Idee von Askese wiederaufleben zu lassen und sieben Wochen lang – von Aschermittwoch bis Ostern – abstinent zu leben. Das Ganze wurde, zieht man die große Anhängerschaft in Betracht, eine Erfolgsgeschichte.

Der Begriff des Fastens wird mittlerweile recht weit gefasst: Verzichtet werden muss nicht unbedingt auf Essen oder Genussmittel wie Alkohol und Zigaretten. Vielmehr lässt sich prinzipiell alles, was dem eigenen Ermessen nach destruktive Aspekte enthält, einer Fastenkur unterziehen. Das Motto der evangelischen Kirche lautet dieses Jahr etwa: Sieben Wochen ohne Scheu. Es gab auch schon Sieben Wochen ohne Geiz oder ohne Zaudern. Manche verzichten auf Hektik, andere auf Faulheit. Einige wollen sich auf Nähe und Gespräch besinnen, andere auf das Schweigen. Eine Frau schreibt in ihrem Erfahrungsbericht auf der Internetseite der evangelischen Fastenaktion, dass sie sich dieses Jahr vornimmt, sieben Wochen auf den Verzicht zu verzichten, weil es ihr in der Regel schwerfällt, sich etwas zu gönnen.

Der Körper als Orakel

Schon immer haben Menschen gefastet, um damit ganz unterschiedliche Ziele zu erreichen: Abwehr schädlicher Kräfte, Reinigung, die Nähe zu Gott, Seelenruhe, Erleuchtung, Ekstase. Gefastet wurde alleine oder in Gemeinschaft, streng oder mild. Oft stellt Fasten eine Vorbereitung auf ein wichtiges Ereignis dar, es kann jedoch auch Reaktion und Nachbereitung sein.

Trotz dieser Verschiedenheit in der Herangehensweise haben alle Fastenpraktiken etwas gemeinsam: nämlich eine intensive Auseinandersetzung mit sich und der Welt – durch die Aufmerksamkeit auf den Körper. Die ungewohnte Situation weckt diesen aus dem Schlaf selbstvergessener Routine. Der fastende Leib wird zum Orakel. Gebannt wird darauf gewartet, dass er ein Zeichen gibt. Viele fühlen sich nach einigen Tagen des Fastens schwerelos und sind von ihrem eigenen Körper überrascht.

Diese Orakelfunktion lässt sich religiös herleiten: Aus christlicher Perspektive ist der Mensch ein Geschöpf Gottes, und durch das Fasten kann das verschüttete Heilige im Menschen wieder zugänglich gemacht werden. Durchs Fasten spürt sich der Mensch. Wer religiös ist, erkennt darin die göttliche Dimension.

Das Fastenerlebnis kann auch naturmystisch gedeutet werden: Indem man dem Körper etwas entzieht, glaubt man sich dem Kosmos verbundener, weil man seine Naturhaftigkeit stärker spürt oder zu spüren meint. Vergleichbare Erfahrungen sind immer wieder mit Drogen gemacht worden, doch der Unterschied ist, dass dabei dem Körper etwas von außen zugefügt wird. Beim Fasten entfällt das.

Wollen und Aushalten

Auf Facebook berichtet eine Frau, dass sie gern die Luft anhält. Wieso, kann sie nicht erklären. Vielleicht ist das Motiv zum Luftanhalten mit dem zum Fasten vergleichbar: In beiden Fällen entzieht man sich freiwillig etwas. Aber warum?

Ein quasi-magisches Moment schwingt mit, wenn man etwas länger aushält, als man glaubt, es aushalten zu können. Tatsächlich ist der Wortursprung von „Fasten“ auf Festhalten, Anhalten zurückzuführen. Das Gothische „fastan“ bedeutete „halten“. Eng verwandt damit sind: sich enthalten, zurückhalten, innehalten. Im Englischen wird gar jeden Morgen zum „breakfast“ das Fasten gebrochen. Eigentlich hören wir also beim Fasten nur mit halbem Ohr unserem Orakelkörper zu. Die andere Hälfte unserer Aufmerksamkeit ist mit dem Ringen der Willenskraft beschäftigt, welche sich mit dem Körper misst. Mit Sigmund Freud stellt sich die Frage, ob dieses Ringen mit dem Körper eher dem Todes- oder dem Lebenstrieb folgt. Wird unbewusst Lust aus dem vorübergehenden „Anhalten“ des Lebens gezogen oder geht es darum, sich durch den Entzug umso lebendiger zu fühlen?

Fasten your seatbelt: Schnallen Sie den Gürtel enger? – In Zeiten, in denen die meisten den Gürtel enger schnallen sollen, um den wenigen beim Prassen zuzuschauen, kann die gegenwärtige Fastenkonjunktur misstrauisch stimmen. Wenn etwa eine Kirchengemeinde in Reutlingen dazu auffordert, dieses Jahr einmal die Fastenzeit zu nutzen, um vier Wochen wie ein Hartz-IV-Empfänger zu leben, ist das dann ein politisch-solidarisches Statement gegenüber Konsumwahn einerseits und Verarmung andererseits? Oder wird sich diese spirituelle Übung nachträglich als Trainingseinheit für den kommenden Normalzustand und damit als Einübung ins Bestehende herausstellen? Fließt die Energie des berüchtigten protestantischen Arbeitsethos nun, angesichts fehlender Arbeit, in einen Fastenethos?

Diät ist die Mechanisierung des Fastens unter mode- und kommerzdiktatorischen Aspekten

Klar ist auf jeden Fall, dass Fasten immer gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegelt. Selbsterfahrungspraktiken können ein resignativer Rückzug ins Private sein, müssen es aber nicht. Gandhi ist dafür das beste Beispiel. Wer sich in körperlicher Aufmerksamkeit übt, kann dadurch seine Sensibilität für sich und andere schärfen und damit handlungsfähiger werden.

Gewaltsames Fasten

Das Aushalten-Üben des Fastens enthält auch einen gewaltsamen Aspekt. Im Christentum ist es die Zeit der Buße für die Sünder, und an der Sünde ist vor allem der Körper schuld. Wären wir Engel, gäbe es nichts zu büßen.

Diese Körperfeindlichkeit ist heute in der Schönheits- und Geschlechterideologie allgegenwärtig. Kaum eine Frau, die mit ihrem Körper zufrieden wäre. Eine ganze Armada an Diätaposteln steht mit Ratschlägen bereit. Diät aber ist die Mechanisierung des Fastens unter mode- und kommerzdiktatorischen Aspekten.

Auch wenn es mittlerweile möglich ist, dass eine üppige Frau wie die Sängerin Beth Ditto von der Band Gossip zur Muse von Karl Lagerfeld avanciert, leiden doch immer mehr Frauen – und zunehmend auch Männer – an Essstörungen. Die einen leiden an Fettsucht, die anderen an Anorexie oder Bulimie. Magersucht aber kann verstanden werden als Neinsagen: Nein zur Welt, nein zu Weiblichkeitsbildern, nein zum eigenen Körper. Es ist ein stiller Protest, dem nichts Heiliges mehr innewohnt. Er endet oft tödlich.