Denn sie wissen nicht, was sie tun (sollen)

BIERZELT Der Politische Aschermittwoch bietet Politikern die Chance, mit großer Geste Gesinnung zu simulieren. Eine Polemik

Der Termin: Alle Parteien laden am Mittwoch zu Veranstaltungen mit Reden ihrer Spitzenleute.

Wer redet wo? Horst Seehofer (CSU) spricht in Passau. Dort reden auch Klaus Ernst und Sahra Wagenknecht bei der Linken. Angela Merkel (CDU) spricht in Demmin in Mecklenburg-Vorpommern, Guido Westerwelle (FDP) ist in Straubing, Renate Künast (Grüne) in Biberach und Niedersonthofen, Sigmar Gabriel (SPD) spricht in Schwerte und Vilshofen. Etliche weitere Termine auf lokaler Ebene.

VON WALTER VAN ROSSUM

Am Aschermittwoch des Jahres 1580 ging es in Vilshofen nicht nur wie sonst um Geschäfte auf dem Vieh- und Rossmarkt. Stattdessen diskutierten die Bauern über die Politik – ein laut vernehmliches Murren. Da hatte sich wohl was zusammengebraut, nachdem man sechs Tage lang gefeiert, sich der rituellen Deregulierung der Sinne und des Verstandes hingegeben, das Geschirr der Sitten und der Macht abgeworfen und dem Rausch sein Herz geöffnet hatte.

Wie wir nicht erst seit Ernst Jünger wissen, ist der Rausch eine ernste Angelegenheit. Wenn der zementierte Lauf der Dinge sein angestammtes Bett verlässt, dann schwankt das Reale selbst. Man könnte also vermuten: Dieser erste Politische Aschermittwoch stand weniger im Zeichen des Katers, sondern im Zeichen der Reinigung, und es handelte sich mit einiger Sicherheit um eine Veranstaltung der Basis, die die Macht das Fasten lehren wollte.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst die Bayernpartei und dann die CSU die Tradition des Politischen Aschermittwochs wieder aufnahmen, folgten sie einigermaßen genau der Aura der historischen Vorgabe. Es hat eine Weile gedauert, bis die anderen Parteien auch auf den Trichter kamen. Heute ist der Politische Aschermittwoch ein heiliger Termin aller Parteien. Die historischen Motive „Basis“ und „Rebellion“ sind dabei zu Elementen einer mehr oder weniger geschickten Dramaturgie geworden. Aschermittwochsrüpeleien gehören zu den letzten Gelegenheiten, bei denen sich die Parteien als Vertreter eines Weltbildes präsentieren und politische Rationalität als Gesinnung dokumentieren können. Selbst in Parteiprogrammen geht so etwas sonst gründlich schief.

Aus dem Programm der FDP zur letzten Bundestagswahl: „Mittelstand ist eine Geisteshaltung. Mit Pioniersinn und Patriotismus, Mut und Verantwortungsgefühl hat der Mittelstand unser Land einst wieder aufgebaut und das deutsche Wirtschaftswunder möglich gemacht. Wer morgens früher aufsteht, wer sich und anderen auf eigenes Risiko eine Existenz aufbaut, wer selbst vorsorgt, nicht fragt, was der Staat ihm schuldet, sondern was er für andere erreichen kann, der verdient den Respekt aller und braucht politischen Rückenwind.“ Jede Zeile ist ein schlagendes Beispiel für einen aberwitzigen Bildungs- und Denknotstand.

Man wird entgegenhalten: Das ist doch bloß schlechte Prosa und billige Ideologie. Mag sein. Allein: Mehr als das gibt es da nicht. Ich glaube nicht, dass die programmatischen Köpfe dieser Partei wissen, was sie wollen, und um ihre wahren Absichten zu verhüllen, dem Wähler solche debilen Botschaften hinhalten. Das ganze Programm dieser Partei steckt voller schneidiger Behauptungen und grausiger Absichten. Nur eines wird man darin vergeblich suchen: die bescheidene Rationalität eines gewöhnlichen Haushaltsgeräts, sagen wir eines Staubsaugers, eine überschaubare Zweck-Mittel-Anordnung.

Mag sein, dass die FDP sich als Speerspitze des Neoliberalismus versteht. Ich bezweifle nur, dass sie belastbare Kenntnisse davon hat, was das eigentlich ist oder sein soll. Ich bezweifle aber auch, dass der bislang erfolgreichste oder besser: folgenreichste neoliberale Politiker, nämlich Gerhard Schröder, wusste, was er da tat. Er wusste allenfalls, wie er es tun könnte. Wenn man die Dinge so sieht, dann geht es nicht um Konzepte, sondern um die Abwesenheit von Konzepten. Dann geht es um einen Pragmatismus, der sich an gewissen kommunikativen Konstellationen orientiert oder daran irre wird.

Nur ein Beispiel sei genannt. Am 6. Juli 2003 sagte die CDU-Chefin Angela Merkel über die deutsche Beteiligung am Irakkrieg: „Ich [halte] es für das vornehmliche deutsche Interesse, nach der Wiedervereinigung Deutschlands auch eine führende Rolle in Europa und in der Welt zu spielen. Wir sind ein großes Land. Aus diesem Grund heraus glaube ich, dass es richtig war, diesen Krieg zu führen.“ Es interessieren hier weniger die moralischen Abgründe, sondern die Logik: Warum glaubt Merkel eigentlich, dass Länder Kriege führen müssen, um große Länder zu sein?

Das intellektuelle Durchdringungsvermögen der Merkels ist die eine Sache, das entschieden komplexere Problem wird man aber darin vermuten müssen, dass in einer Hochzivilisation, einer High-Tech-Informationsgesellschaft derart durchgeknallte Begründungen als Orientierungsmarken zirkulieren.

Es fehlt nicht an großen Fragen, an bedeutenden Themen. Wie der letzte Wahlkampf hinreichend belegt hat, agiert der weitaus größte Teil der politischen Elite entschlossen unterhalb dieser Problemhöhe. Aus dem einfachen Grund: Diese Politik hat keine Antworten auf Fragen, die sie nicht zu stellen wagt.

Und damit kommen wir zurück auf den Politischen Aschermittwoch. Man versteht, wenn es Politiker ins Bierzelt zieht. Hier können sie Gesinnung simulieren, hier können sie so tun, als seien sie die Vollstrecker eines komplexen Weltbildes. Man wird natürlich nicht mehr hören als die rhetorische Vermessung der neuen und alten Feinde. Doch danach lechzt ein Restpublikum genauso wie die trostlosen Tribune selbst.

Walter van Rossum, 55, ist freier Autor. Er lebt in Köln und Marokko