„Ich war neun“

AUS KITGUM CARSTEN STORMER

Der Geländewagen holpert über die schmale Sandpiste. Hohes Gras versperrt die Sicht in den Busch. Die Angst vor einem Überfall der Rebellen, die sich dort versteckt halten könnten, ist groß und berechtigt. Hinten auf der Ladefläche sitzen Soldaten, die Kalaschnikow im Anschlag.

Wir treffen Okumu im Flüchtlingslager, wenige Kilometer außerhalb der kleinen Stadt Kitgum im Norden Ugandas. Barfuß ist der Junge. Gekleidet in rosa Hemd und dunkle, kurze Hose, sitzt er in einer kargen Lehmhütte. Durch die offene Tür starrt er hinaus in eine Welt, die nach Exkrementen und verfaulendem Müll riecht. Die Mittagshitze lässt die Luft flirren. Halbnackte Kinder spielen auf einem Grab. Okumu schüttelt den Kopf, als wolle er die bösen Geister der Vergangenheit wie lästige Fliegen vertreiben. Dann aber erzählt er uns seine Geschichte. Sie beginnt mit den Worten: „Ich war neun, als ich zum ersten Mal töten musste.“

Es ist Spätsommer 1998. Okumu holt mit anderen Kindern Wasser am Dorfbrunnen. Die Männer, die mit Kalaschnikows, Panzerfäusten und Macheten bewaffnet aus dem hohen Gras auftauchen, hört er nicht kommen. „Wir waren umzingelt, hatten große Angst und schrien.“ Ein Junge versucht wegzulaufen, er wird sofort erschossen. Die bewaffneten Männer sagen, dass das jedem passieren würde, der zu fliehen versucht. „Der Anführer sagte zu uns, dass wir jetzt Soldaten der Lord Resistance Army sind“, erzählt Okumu.

Hier, wo er lebt, in der Provinz Achioli, führt die Lord‘s Resistance Army (LRA) seit neunzehn Jahren einen erbarmungslosen Krieg gegen Regierung und Volk. Joseph Kony, ihr spiritueller Führer, will mit Mord und Totschlag einen christlichen Gottesstaat auf der Basis der zehn Gebote errichten. Es ist ein versteckter, sinnloser Krieg, der das Land seit zwei Dekaden lähmt.

Kinder als Raubgut

Jemand betritt die Hütte, es ist Okumus Onkel. Der Junge unterbricht seine Erzählung. Die Verwandten wissen, dass er bei den Rebellen war. Sie ahnen, dass er getötet hat. Erzählt hat es Okumu aber nie. „Ich habe Angst, dass sie mich verstoßen“, sagt er. Es ist stickig in der Hütte. Er wischt sich den Schweiß aus den Augen, wartet, bis wir wieder alleine sind, und fährt dann fort.

Er erzählt, wie Rebellen der LRA, diese selbst ernannten Gotteskrieger, das Flüchtlingslager plünderten – hungrig nach Nahrung, gierig nach Sex. Sie stahlen, was sie fanden, auch die Kinder, vor allem die Kinder. „Wir müssen mehr als dreihundert gewesen sein“, erinnert sich Okumu.

Mit Seilen an den Hüften zusammengebunden, werden die Kinder durch den Busch geführt. Scharfes Elefantengras und spitze Steine schneiden ihnen in die nackten Füße. Immer wieder stockt Okumu, sucht nach Worten für etwas, wofür es keine Sprache gibt.

Ein kleines Mädchen, das hinter Okumu läuft, bricht erschöpft zusammen. Ein Rebell geht wortlos auf sie zu, schlägt sie mit dem Kolben seines Gewehrs bewusstlos. Reißt ihr die Fetzen vom Körper, vergewaltigt und erwürgt sie.

Zwei Tage und zwei Nächte laufen sie ohne Pause in Richtung Sudan, ins Rückzugsgebiet der LRA. „Wir durften nicht schlafen und bekamen nichts zu essen. Der Kommandeur sagte, dass jedes Kind, das versucht zu fliehen, getötet wird.“

Okumu erzählt, wie drei Jungen ihre Fesseln lösen und flüchten wollen. Sie kommen nicht weit. Sie weinen, betteln um ihr Leben. Der Anführer der Rebellen zückt seine panga, seine Machete, und wendet sich an Okumu. „Komm her mein Sohn! Heute wirst du zum Mann.“ Nie wird Okumu die Worte vergessen, mit denen ihm der Kommandeur das Buschmesser in die Hand drückt. „Ich will, dass du diese drei Verräter tötest. Wenn du dich weigerst, stirbst du.“

Was dann geschah, daran kann sich Okumu nur schemenhaft erinnern. „Ich hörte nur das Gejohle der Soldaten. Da schloss ich meine Augen und hieb immer wieder mit der Machete auf die Jungen ein.“ Am Ende liegen drei in Stücke gehackte Kinder in einer Blutlache. Die Soldaten schneiden ihnen die Köpfe ab und nehmen sie mit. An diesem Tag versucht kein Kind mehr zu fliehen.

Wie viele Menschen er noch getötet hat, weiß Okumu nicht. „Ich war in so vielen Schlachten, irgendwann habe ich aufgehört, zu zählen.“ Nur die drei Jungen kann er bis heute nicht vergessen. Erst sieben lange Jahre später wird es ihm gelingen, während eines Scharmützels zu fliehen. Er irrt tagelang hungrig durch den Busch, bis er einer Militärpatrouille der ugandischen Armee in die Arme läuft.

Zwei Stunden hat Okumu fast ohne Pause geredet; manchmal ruhig und gefasst, dann wie ein Besessener. Sein Atem geht hastig. „Ich werde nie vergessen, was ich anderen Menschen antun musste.“ Eine Träne quillt aus einem Auge. Die Geister der Verstorbenen, die cen, sind zu ihm zurückgekehrt. „Das Schlimmste war, Gefangene zu verstümmeln.“

Kinder als Killer

Wir verlassen den Täter Okumu, das Opfer Okumu und fahren hinein nach Kitgum. Die Stadt bietet Bedingungen, von denen man im Flüchtlingslager nur träumen kann. Elektrisches Licht statt Petroleumfunzeln und Kerzen. Bars, in denen Bier und Schnaps ausgeschenkt wird. Ein paar bescheidene Restaurants. Frauen tragen Körbe mit frisch gewaschener Kleidung auf ihren Köpfen. Lieder, die von Krieg und Liebe erzählen und Kunden in die Bars locken sollen, dröhnen aus riesigen Lautsprechern.

Hier wollen wir Opfer von Joseph Konys Kindern treffen. Lange suchen müssen wir nicht. Jeder in Kitgum kennt Opfer und Täter.

Ochola John, fünfundzwanzig, sitzt im Schatten eines Mangobaumes auf einer Holzbank. Ein leichter Wind trägt die rhythmischen Klänge afrikanischer Trommeln und monotoner Gesänge herüber. Abfallhaufen verströmen ihren süßlichen Verwesungsgeruch. Malariagelbe Augen blicken aus einer Wunde, die einmal ein Gesicht war. Auch Ochola erzählt uns seine Geschichte.

Eine Nacht im Mai 2003. Rebellen der LRA greifen Kitgum an. Ochola, der Maisbauer, schläft, als die Tür eingetreten wird und bewaffnete Männer ihn aus seiner Hütte zerren, ihn fesseln und verhören. „Ein Mann schrie mich an. Ich sollte zugeben, ein Soldat zu sein.“ Ochola sagt, er sei Bauer. Ein zehnjähriger Junge, gefesselt und verängstigt, ein Nachbarkind, wird zu Ochola geführt. „Der Kommandant fragte den Jungen, ob ich Soldat sei.“ Der nickt, ohne Ochola anzusehen. „Der Mann sagte, dass ich ein Lügner sei, dass er mich jetzt töten wird und ob das gut oder schlecht sei“, erzählt Ochola weiter.

Der junge Mann bettelt um sein Leben. Die Rebellen lachen ihn aus und zwingen ihn, einen Brief an die ugandische Armee zu schreiben. Der Text lautet: „Seht her! Das passiert mit Soldaten, die uns in die Hände fallen.“

Dann fallen zu Killern mutierte Kinder über Ochola her. Zuerst schneiden sie ihm die Nase mit einem Skalpell ab, dann die Ohren, dann die Oberlippe. Ochola wird bewusstlos. Als er wieder erwacht, blickt er in entmenschte Kinderaugen. Dass sie ihm jetzt die Finger abschneiden werden, sagen sie ihm. Sie streiten sich, wer anfangen darf. Ochola hat nur noch einen Wunsch: Er möchte sterben.

Abrupt steht er auf, hinter ihm fällt die Holzbank um, er ruft verzweifelt: „Seht, was die mit mir gemacht haben. Ich bin kein Mann mehr. Ich kann mich nicht mal alleine waschen.“ Mit den vernarbten Stümpfen seiner Hände wischt er sich die Tränen aus dem Gesicht. Er wendet sich zur Seite, atmet tief durch. Seine Frau bringt die Kinder in die Lehmhütte – die beiden sollen den Vater nicht weinen sehen. „Manchmal wünsche ich mir, dass sie mich umgebracht hätten“, sagt Ochola.

Kinder als Beute

Über Kitgum bricht die Nacht herein. Wir verabschieden uns von Ochola und fahren ziellos durch die kleine Stadt. Die Abendluft duftet nach gegrillten Fleischspießen.

Vor unseren Augen vollzieht sich ein bizarres Schauspiel. Tausende Kinder, barfüßig und in Lumpen gehüllt, marschieren nach Kitgum ein. Sie kommen aus den umliegenden Flüchtlingslagern, unter den Armen tragen sie Decken. Wir beobachten, wie Halbwüchsige sich auf Bürgersteigen niederlassen, in Hauseingängen, Schulen und Kirchen. Sie kichern miteinander, spielen mit Steinen oder rangeln miteinander um ihren Stammplatz auf dem nackten Asphalt. Wenn die letzten Lichter in Kitgum ausgehen, wickeln sie sich erschöpft in ihre Decken und schlafen ein. Jeden Tag kommen sie. Sechzehntausend allein hierher nach Kitgum, getrieben von der Angst, im Flüchtlingslager entführt oder getötet zu werden.

Unter ihnen ist auch Okumu. Er führt uns in ein Schulhaus, breitet seine Decke auf dem Boden aus, winkelt die Knie an die Brust. Ein Kind geht schlafen. „Ich komme seit zwei Jahren jeden Tag hierher“, sagt er, „hier bin ich sicher.“ Draußen beginnt es zu regnen. Die Tropfen schlagen wie Gewehrkugeln auf das Wellblechdach der Schule.

In einer Ecke sitzen drei Jungen über einem zerfledderten Geografiebuch. „Europa“, sagt einer der Jungen und deutet auf eine Landkarte. „Da gibt es Kinder, die in Frieden leben.“ Ein Blitz erhellt das Schulgebäude. Der Donner lässt Okumu zusammenzucken. „Solange es die LRA gibt, wird es keinen Frieden geben.“

Okumu ist jetzt sechszehn Jahre alt und geht in die vierte Klasse. Nicht mehr lange, denn er hat kein Geld für Schulgebühren oder eine Uniform. „Im Unterricht komme ich sowieso nicht mehr mit, die Albträume haben mein Gehirn zerstört“, sagt Okumu. Trotz und Resignation mischen sich in seiner Stimme. „Ich bin nutzlos und ein Mörder.“ Er wickelt sich in seine Decke, dreht sich zur Wand um und wartet auf die Albträume.