CHAMPAGNER IST DAS STERNBURG DER KRISE: Der Hartz-IV-Verkäufer
LIEBLING DER MASSEN
Eine Wochenendnacht auf dem U-Bahnhof Eberswalder Straße. Es ist kalt und zugig, auf einer Sitzbank steht eine leere Flasche Champagner. Den Anblick hat man immer öfter in letzter Zeit.
Endlich kommt die Bahn. In der U 2 zetern und kreischen fröhliche junge Kreative. Man muss das verstehen. Der unter der Woche in der Plattenfirma oder Werbeagentur aufgestaute unmenschliche Druck entlädt sich in einer Orgie der Gewalt der Sinne im Kopf. Auch hier kreist wieder eine Champagnerflasche. Wo einst Sternburgpullen auf den Sammler harrten, kullern samstagnachts nun die schweren Schampusflaschen über den Waggonboden.
Champagner ist das Sternburg der Krise. Da es sich zurzeit nicht lohnt, in feste Werte zu investieren, trinken wir halt stattdessen Champagner, sagen sich die armen Leute, die digitalen Penner oder wie man das bunzdumm nennt. Anders gesagt: die Generation Praktikum. Auf diese Weise gibt es wenigstens eine Sache, die sie mit ihrem Chef gemeinsam haben. Der sitzt ganz oben in seinem Glashaus, schlürft Champagner und scheffelt Milliarden, während er wechselseitig tausend Praktikanten beschäftigt, die fast umsonst die schwere Arbeit machen. In der Branche duzt man sich, so beutet es sich lockerer aus. „Du, wir haben keinen Job“, lügt der böse Mann, „sorry, echt, die Krise!“ In Wahrheit ist er nur zu geizig, die Leute zu bezahlen. Die aber sind fantasielos: „Man muss das heutzutage machen, anders geht es nicht: Erfahrungen sammeln, Erfahrungen sammeln, Erfahrungen sammeln. Ich hab ja noch Glück gehabt, dass ich das Praktikum überhaupt bekommen habe!“
Dann vertiefen sie sich wieder eifrig in ihre Arbeit. Ein weiteres sinnloses Produkt muss an den Mann, die Frau, den Hermaphroditen gebracht werden. Aber wie? „Sinnloses Produkt – schmeckt, wenn man es schluckt“, reimen sie. Das ist zu klassisch. Passt auch nicht so gut zu einem Handy mit integriertem Plasmabildschirm. Also weiter. „Sinnloses Produkt? Sie baden grade Ihre Hände drin.“
Die Praktikantin ist übermüdet. Das ganze Wochenende hat sie in der U 2 gefeiert. „Sammel mal woanders Erfahrungen“, gibt ihr der Chef einen letzten Tritt. Draußen warten neue Kandidaten. Sie tragen Champagnerflaschen in den Händen und sind zu allem bereit. Warum sie sich nicht zusammentun? Nun, es schmerzt, wenn man sich bei anderen einreihen will, aber jeder gewohnheitsmäßig die Ellbogen ausfährt.
„Kam da neulich so’n Hartz-IV-Verkäufer“, sagt nun einer der jungen Leute munter in der U-Bahn, „ich meine: so’n Motz-Verkäufer?“ In einem hübschen Köpfchen verarbeitet ein hässliches Hirnchen Fakten, Vorurteile und Erwartungen zu einem verräterischen Mix. Da muss man sogar hoffen, dass es am Champagner liegt.
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