Kinder, Kinder

Jahrzehntelang haben CDU und SPD die Familien ignoriert. Jetzt streiten beide Volksparteien um die beste Förderpolitik. Elterngeld, kostenloser Kitaplatz, steuerlich absetzbare Tagesmütter – das Motto lautet: Wer bietet mehr? Das wirklich Wichtige vergessen sie: Leben mit Kindern ist keine Sensation

VON ROBIN ALEXANDER

Für Kinder ab dem ersten Lebensjahr soll es einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz geben, meint die SPD. Dieser soll bitte schön kostenlos sein, will Christoph Böhr von der CDU. Eventuell anfallende Betreuungskosten nach Kita und Schule sollen steuerlich absetzbar sein – ab dem ersten Euro, verlangen SPD und CSU. Einige Ministerpräsidenten fordern in dieser Woche einen „Deutschen Kindergipfel“, und einiges spricht dafür, dass es tatsächlich noch dicker kommt: Die sonst um ernste Meinungsverschiedenheiten verlegenen Koalitionspartner scheinen entschlossen, einander ausgerechnet in der Familienpolitik zu befehden: Und der Streit wird unter dem Motto ausgefochten: Wer bietet mehr?

Kaum zu übertreffen dürften allerdings die 21.600 Euro sein, die das Kabinett Merkel Besserverdienenden dafür schenken möchte, dass ein Elternteil die unglaubliche Zumutung auf sich nimmt, ein Jahr bei dem eigenen Baby zu bleiben. Der Kindergipfel könnte in diesem Geiste weitermachen: 200 Euro für jeden Milchzahn, der den Eltern schlaflose Nächte bereitet hat. Oder 500 Euro für jede gemeinsam durchlittene Kinderkrankheit (600 Euro, wenn sich auch der Vater angesteckt hat.)

Aufdringliche Fürsorge

Die Übertreibung illustriert den Kern: Hier läuft mehr falsch, als dass bei einer Politik für die Mittelschicht jedes Maß verloren gegangen ist. Lassen sich Kostenlos-Kitas im Land der Umsonst-Universitäten noch logisch begründen, so ist das Elterngeld als Sozialleistung für Reiche nicht nur ein Systembruch, sondern eine komplette Absurdität. Sicher gibt es verwerflichere politische Ideen als die, Eltern mit Geld zu bewerfen. Aber das Kindertheater, das Union und SPD gerade aufführen, nährt die Vorstellung, die Familie als solche sei schwach und bedürftig.

Diese Vorstellung ist aber

1. falsch und

2. nützt sie den Menschen, die mit Kindern leben, nicht.

Um nicht missverstanden zu werden: Wir reden hier nicht über Familienarmut. Die gibt es in Deutschland. Wie es auch Altersarmut gibt. Oder Jugendarbeitslosigkeit. Niemand kommt deshalb auf die Idee, das Altwerden oder das Jungsein an sich nicht mehr als natürlichen Lebensabschnitt, sondern als Problem zu sehen. Aber genau das passiert im Moment mit dem Leben mit Kindern. Von diesem Phänomen ist nicht nur die Politik befallen: Kinder sind im akademischen Milieu (und nur dort) so rar geworden, dass sie schon als Sensation durchgehen. Nicht etwa die Kinderlosigkeit ist mehr die Nachricht, sondern das gebildete junge Leute Kinder wollen: Seit vor drei Jahren im ehemaligen Berliner Szenebezirk Prenzlauer Berg zwei Kinderwagen gleichzeitig an derselben Ecke gesehen wurden, hagelt es Reportagen. Das angesagte Magazin Dummy widmet dem Phänomen Kind seine komplette aktuelle Nummer. Und findet sein Publikum: Was man als alltägliche Erfahrung verloren hat, wird interessant. Die vorletzte Dummy-Ausgabe hatte den Titel „Juden“. Momentan kann man dem allgegenwärtigen Gerede über Kinder gar nicht entgehen. Das fällt doppelt auf, weil bis vor kurzem Leben mit Kindern in der Öffentlichkeit überhaupt nicht vorkam. Als der Journalist Bernhard Pötter vor wenigen Jahren für diese Zeitung eine „Kinderkolumne“ erfand, wurde ihm von empörten Kollegen vorgehalten, er beute seinen Nachwuchs aus. Schreiber, die selbst das Publikum wöchentlich über den Inhalt ihrer Kochtöpfe, die Speckrolle am Bauch ihrer Freundin und ihre Hörgewohnheiten in der Badewanne informierten, stellten kategorisch fest: Kinder seien Privatsache und müssten es bleiben.

Auch in der Politik – man glaubt es im Eindruck der jetzt angekündigten Maßnahmen kaum – kamen bis vor kurzem die Interessen von Familien notorisch zu kurz. Wer sich um Kinder scherte, galt im Politikbetrieb als sentimental oder reaktionär. Ob Schwarz-Gelb, vorher Rot-Gelb oder zuletzt Rot-Grün: Sie ließen eine Situation entstehen, in der Familien ökonomisch gegenüber Singles und noch stärker gegenüber kinderlos Verheirateten benachteiligt sind. Die Parteien, die jetzt plötzlich vom Kinderfieber befallen sind, mussten wieder und wieder vom Bundesverfassungsgericht gezwungen werden, wenigstens bei Steuern und Rente die gröbsten Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Jetzt geht es voll in die andere Richtung: Wurden Menschen, die mit Kindern leben, bisher geschröpft, so sollen sie nun alimentiert werden. Neben direkten Transferleistungen wird dabei vor allem auf einen Ausbau der Kinderbetreuung gesetzt. Zeitungsleser in diesen Tagen gewinnen den Eindruck: Je schneller Kinder in Kitas kommen und je mehr Stunden am Tag sie dort bleiben, desto besser für sie. Sogar die unseligen Kinderverwahranstalten des Ehepaars Honecker werden jetzt zum Vorbild ausgerufen! Besonders die SPD-Funktionäre verwenden gerne das Argument, sehr frühe Bildung vom Staat könne ein bildungsfernes Elternhaus ausgleichen und so die Chancengleichheit verbessern. Das klingt tatsächlich fortschrittlich, ist aber bei Lichte besehen, das genaue Gegenteil: Die Idee, einfache Leute seien nicht in der Lage, ihre Kleinkinder zu wickeln, zu füttern und liebevoll aufzuziehen, zeigt nur den Dünkel der besser Gestellten.

Und allein um die geht es: Arbeitgeber können Unidozentinnen und Anwälten, Journalisten und Ärztinnen einreden, ihre Arbeit sei zu wertvoll, um ihr nicht rund um die Uhr nachzugehen oder gar ein oder zwei Jahre zu pausieren. Verkäuferinnen bei Lidl und Bauarbeitern kann der Job hingegen keine Unentbehrlichkeit vorgaukeln. Der plötzliche, extreme Umschlag in der Politik – von der totalen Ignoranz zur aufdringlichen Fürsorge – erklärt sich vielleicht aus einem Mangel an persönlicher Kenntnis vom Gegenstand der Erregung. Wer von denen, die da schreiben, reden und entscheiden, lebt denn mit Kindern? Die jetzt den großen Schrei nach Kindern anstimmen, haben zu Hause selten Kindergeschrei gehabt.

Alte und neue Ignoranz

Der Versorgervater, der Familienarbeit komplett an seine Ehefrau delegiert hat, ist ein altes Phänomen, aber keines, das an Aktualität eingebüßt hat: Die Leitartikel, die Politik für Familien propagieren, werden von Männern geschrieben, die ihre Kinder nicht ins Bett bringen, weil sie zu dieser Zeit noch im Büro sind. Ein relativ junges Phänomen ist, dass es mittlerweile auch viele Frauen gibt, die Leitartikel schreiben oder die Chefinnen von Leitartiklern sind. Allerdings sind es fast nie Mütter, die es in Führungspositionen schaffen.

Die erste Kanzlerin dieses Landes ist kinderlos. Die bislang einzige Ministerpräsidentin war es. Vier von sechs Frauen im Bundeskabinett sind kinderlos. Aber kein einziger Minister. Die Vorbildfrauen im Fernsehen – Christiansen, Illner, Maischberger – sind kinderlos. Und so sieht es überall aus: in den Vorständen von Unternehmen und Parteien, in den Führungsgremien von Organisationen und Redaktionen. Die Hoffnung, mit den Frauen würde Erfahrung über das Leben mit Kindern in die Hierarchien vordringen, hat getrogen.

Um ein weiteres Missverständnis abzuwenden: Kinderlosigkeit ist – selbstverständlich – kein Makel. Wer kein Kind will, kann allein oder mit Freunden oder viel Arbeit oder einem Hund glücklich werden. Und auch ein guter Chef sein. Der Einzelne mag sich sogar ohne Kind in die Situation von Eltern versetzen können. Eine Führungsschicht von Tanten und Feierabendvätern aber merkt gar nicht, dass sie ein Sozialverhalten hat, das Eltern ausgrenzt und eine Arbeitswelt schafft, die Eltern – und natürlich in erster Linie Mütter – diskriminiert. Selbst die Ausnahmen bestätigen noch die Regel: Dass der Rundfunk Berlin-Brandenburg eine neue Pariskorrespondentin mit Mann und drei kleinen Kindern an die Seine schickt, gilt branchenintern als bemerkenswert. Aber nicht als Zufall: Diese Anstalt wird von einer Intendantin geleitet, die selbst vier Kinder hat.

Aber schafft der politische Diskurs über Kinder und die geplanten staatlichen Leistungen für Eltern nicht vielleicht neue Akzeptanz für Menschen mit Kindern? Wird ein Mann oder eine Frau vielleicht weniger belächelt, wenn er oder sie Elternzeit nimmt, wenn der Staat dafür üppig zahlt? An dem Argument ist etwas dran. Aber es ist gefährlich: Das Motto „Für Familien sorgt ja der Staat“ entlastet die Unternehmen, Universitäten und Behörden davon, selbst elternfreundliche Arbeitsbedingungen zu schaffen. Aber genau darauf kommt es an.

Also: Der Staat kann ruhig Geld für das Selbstverständlichste der Welt ausgeben. Und jede Firma darf ihren 24-Stunden-Betriebskindergarten gründen. Nichts ersetzt aber die Chefin oder den Kollegen, der es selbstverständlich findet, dass Vater oder Mutter zu Hause bleiben, wenn das Kind Fieber hat.