: Die Zeit der Reife
Amélie Mauresmo gewinnt in Melbourne ihr erstes Grand-Slam-Turnier – Finalgegnerin Justine Henin-Hardenne gibt im zweiten Satz auf
AUS MELBOURNE DORIS HENKEL
Amélies Welt war trotz allem wunderbar in Ordnung. Sicher, im ersten Augenblick hatte es sich sehr merkwürdig angefühlt, die größte Trophäe ihrer Karriere nach einem halben Spiel in den Händen zu halten. Nach einem Spiel ohne Ende, ohne das unbeschreibliche Kribbeln beim Matchball und ohne den erlösenden Jubel. Völlig überrascht, wie jeder der 15.000 Zuschauer in der Rod-Laver-Arena, hatte die Französin gesehen, wie Justine Henin-Hardenne nach 52 Minuten beim Stand von 1:6 und 0:2 zum Netz gegangen war und ihr dort mitgeteilt hatte, sie könne nicht weiterspielen. Doch das war bald vergessen, und dies war ganz gewiss kein falscher Sieg. Amélie Mauresmo freute sich von Herzen über ihren ersten Grand-Slam-Titel und fand, sie habe ihn verdient.
Das war am Ende nicht die Frage – Henins Entscheidung stand zur Diskussion. Die erklärte hinterher, aschfahl im Gesicht und mit geröteten Augen, das sei eine der schwersten Entscheidungen ihrer Karriere gewesen, aber es sei ihr wirklich elend schlecht gegangen. Während des ganzen Turniers hatte sie entzündungshemmende Tabletten wegen nicht nachlassender Schmerzen in der Schulter nehmen müssen, täglich zwei Stück, und sie verträgt solche Mittel ohnehin schlecht. In der Nacht vor dem Finale sei sie mit derartigen Magenschmerzen aufgewacht, dass sie überlegt habe, den Arzt zu rufen. „Das waren die schlimmsten Schmerzen, die ich je hatte.“
Bis zum Spiel sei es kaum besser geworden, und dass sie in dieser Verfassung keine Chance haben würde, sei ihr klar gewesen. Sie habe es trotzdem versuchen wollen. Bis zum Beginn des zweiten Satzes. Mauresmo hatte bis zu dahin nicht das Gefühl, mit der Gegnerin könne etwas nicht in Ordnung sein. Sie musste glauben, der schnelle, klare Vorsprung sei das Ergebnis ihres präzisen, druckvollen Spiels, ihrer extremen Topspin-Bälle, die die eher kleine Henin mit größter Anstrengung in Schulterhöhe schlagen musste.
Wie es der in diesen Momenten ging, konnte ja keiner wissen; offensichtlich war nur, dass sie keine Chance hatte. Und das rief Zweifler auf den Plan. Ob sie nicht der Meinung sei, dass sie noch ein paar Minuten durchhalten und das Finale hätte beenden sollen? Justine Henin verzog keine Miene bei der Antwort. „Jeder hat das Recht, so zu denken. Aber es ist meine Gesundheit; ich muss mich um mich selbst kümmern.“ Ob es ihr dennoch Leid tue, die Gegnerin um den Triumph gebracht zu haben, das Spiel auf normalem Wege zu beenden? „Zuerst tue ich mir jetzt selber Leid“, entgegnete sie, „danach kann ich mich damit beschäftigen, dass sie mir Leid tut.“
Mauresmo mochte ihrer Gegnerin keinen Vorwurf machen und beließ es bei dem alten Sprichwort: „Des einen Freud ist des anderen Leid.“ Auch der große Ivan Lendl hat in Melbourne mal einen Titel nach einem halben Spiel gewonnen, als der Schwede Stefan Edberg 1990 mit einer Rückenverletzung nicht mehr weiterspielen konnte. Amélie Mauresmo hätte fremde Hilfe bei diesem Turnier vermutlich nicht gebraucht; sie war großartig in Form. In dem Zusammenhang wirkt es geradezu bizarr, dass sie gleich dreimal gewann, weil ihre Gegnerinnen nicht weiterspielen konnten. In der dritten Runde hatte Michaella Krajicek aufgegeben, weil sie die Hitze nicht mehr aushielt, im Halbfinale Kim Clijsters mit einem Bänderriss im Sprunggelenk, und am Schluss kapitulierte Henin. So sei es nun mal, sagte die Siegerin; auch wegen ihrer größeren Fitness habe sie verdient gewonnen.
Die traurige Erinnerung an das vor sieben Jahren in Melbourne verlorene Finale gegen Martina Hingis spielt keine Rolle mehr. Es gibt neue Bilder für Amélies empfindsame Seele; bessere, schönere. Manches braucht halt seine Zeit bis zur Reife. Wie der Wein, den sie vor drei oder vier Jahren zur Feier ihres ersten Grand-Slam-Sieges gekauft und in den Keller gelegt hat: Eine Flasche Sauternes, Chateau d’Yquem, Jahrgang ’37, aktueller Marktwert rund 2.000 Euro. Zuerst sagte sie, die wolle sie jetzt öffnen. Doch nach einer kleinen Pause und einem Lächeln meinte sie: „Ach, ich weiß nicht, vielleicht behalte ich sie noch eine Weile.“ Manchmal kann auch Gutes noch besser werden.
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