Tod, Trümmer, Eis

AUS WARSCHAUGABRIELE LESSER

„Ich war mit meiner Familie auf der Taubenausstellung. Wir gehen da jedes Jahr hin“, sagt eine junge Frau mit blutigen Schrammen im Gesicht. „Es gab einen gigantischen Schlag und dann kam das Dach runter. Es krachte und splitterte. Alle schrien in panischer Angst. Ich stand nahe am Ausgang und konnte in letzter Sekunde raus rennen.“

Am frühen Samstagnachmittag ahnte noch niemand etwas von einer Katastrophe in der größten Messehalle im oberschlesischen Kattowitz (Katowice). Das Fernsehen übertrug Bilder von friedlich fachsimpelnden Taubenzüchtern, Versteck spielenden Kindern und zehntausenden von Tauben. Gegen 17 Uhr aber stürzte das Dach ein und begrub 500 bis 1.000 Menschen unter den Trümmern.

Die junge Frau im Krankenhaus wendet kurz den dick bandagierten Kopf ab und sagt dann: „Meine Tochter war bei mir. Sie hat es auch geschafft. Aber mein Mann? Er ist wohl verletzt. Ich hoffe, er hat überlebt.“ Flüsternd setzt sie hinzu: „Mein Schwiegervater war schon vorausgegangen. Er wollte sich mit Freunden treffen. Wahrscheinlich hat er das Unglück nicht überlebt.“

Gegen Mitternacht bohrt ein Rettungsmann mit einem Schneidbrenner ein viereckiges Loch in die eingestürzte Messehalle. Er zieht das Wellblech nach oben und schrickt zurück. Aus dem dunklen Hohlraum schießen dutzende verstörte Tauben ins Freie. Manch eine fällt nach wenigen Flügelschlägen kraftlos in den Schnee. Es ist minus 15 Grad. Im Licht einer starken Taschenlampe ist ein Bein in der Tiefe zu sehen. „Ruhe!“, gellt es aus einem Megafon über das eingestürzte Dach der großen Halle. Es wird still. Über 1.000 Rettungskräfte halten in ihrem verzweifelten Kampf gegen die Zeit inne. Suchhunde laufen zu dem Loch.

Doch sie geben keinen Laut. Es bleibt totenstill. Minutenlang. Alle wissen, was das bedeutet. Die Hilfe für die Verschütteten kommt zu spät. Die Menschen in der Tiefe sind tot, erschlagen von den Stahlstreben der Halle oder erfroren nach stundenlangem Liegen in eisiger Kälte.

Gestern Nachmittag geben die polnischen Rettungskräfte ihre Suche nach möglichen Überlebenden auf. „Die Rettungsphase des Einsatzes ist vorbei“, erklärt ein Sprecher der örtlichen Feuerwehr. „Die Chancen, noch Überlebende zu finden, sind gleich null.“ Mit schwerem Gerät sollen in den nächsten Tagen die Trümmer entfernt und die verbliebenen Toten geborgen werden.

Unter den Toten und Verletzten sind auch mehrere Ausländer. Ein Deutscher sei ums Leben gekommen, vier weitere verletzt, erklärte Sonntagnachmittag eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes. Auch Tschechen, Belgier, ein Slowake und ein Niederländer waren unter den verschütteten Opfern.

„Meine Gedanken sind bei den zahlreichen Opfern und ihren Angehörigen“, schrieb die Kanzlerin am Sonntag in einem Beileidstelegramm an den polnischen Ministerpräsidenten Kazimierz Marcinkiewicz. Mit Bestürzung habe sie von dem Einsturz des Daches erfahren. „Ich wünsche den Hinterbliebene Trost und den Verletzten eine möglichst schnelle und vollständige Genesung.“

Russlands Präsident Wladimier Putin sandte ein Kondolenztelegramm an seinen polnischen Kollegen Lech Kaczyński: „Russland ist erschüttert von der Nachricht der Tragödie in Kattowitz.“ Das Telegramm ist eine versöhnliche Geste im zur Zeit sehr gespannten Verhältnis zwischen Russland und Polen. In Rom gedachte Papst Benedikt XVI. in seiner Sonntagsansprache der Verletzten und Toten von Kattowitz und segnete sie. Polens Präsident Lech Kaczyński ordnete gestern Nachmittag Staatstrauer an.