BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Sicherungsvorgang XV 5664/88

Endlich verstehe ich, warum mich die Abteilung Auslandsspionage der Stasi in einem Sicherungsvorgang erfasst hat

Ich liebe es, in der Vergangenheit zu wühlen. Nicht, weil mich die Gegenwart langweilt, nein, nein. Weil ich verstehen will. Deshalb bin ich froh, dass die Stasi-Aufarbeitung weitergeht und der Bundestag die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen für weitere fünf Jahre gewählt hat. Es gibt Leute, die meinen, es müsste endlich Schluss sein mit den ollen Kamellen. Das klingt, mit Verlaub, nach dem ehemaligen Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, der kurz vor dem Ende forderte: „Vorwärts immer. Rückwärts nimmer!“

Nach dem Mauerfall wollte ich verstehen, warum ich damals einige Jobs nicht bekommen habe und über mich das Gerücht verbreitet wurde, ich hätte einen Ausreiseantrag gestellt, obwohl ich lediglich einen solchen verfasst, aber nie abgeschickt hatte. Deshalb bat ich kurz nach der Verabschiedung des Stasiunterlagen-Gesetzes im April 1992 um Akteneinsicht. Drei Monate später wurde mir eine „Tagebuch-Nummer“ zugeteilt: 073449/92 Z. Ich wurde gebeten, von schriftlichen oder telefonischen Anfragen abzusehen. Der Bitte kam ich nach und ließ die Mitarbeiter ungestört Papierschnipsel zusammenkleben.

Im August 1993 erhielt ich wieder einen Brief von der Behörde. „Die Recherchen aufgrund Ihres Antrages sind abgeschlossen.“ Beseelt von der Aussicht, endlich zu verstehen, las ich aufgeregt weiter. „Die Suche in den Karteien der Zentralstelle Berlin und in den Karteien der Dienststellen des MfS, die für die von Ihnen angegebenen Wohnorte zuständig waren, ist ergebnislos verlaufen.“ Ich verstand nicht. Der nächste Satz baute mich zumindest etwas auf. „Es ist möglich, dass bei den weiteren Erschließungsarbeiten noch Unterlagen zu Ihrer Person aufgefunden werden.“ Ich wurde vertröstet auf das Jahr 1995. Bis dahin sollten die personenbezogenen Stasiunterlagen weitgehend erschlossen sein.

1995 stellte ich einen Wiederholungsantrag. Vier Jahre lang passierte nichts. Dann endlich erreichte mich ein Schreiben, versehen mit einem „Persönlich“-Stempel. Nervös begann ich zu lesen. „Es wurde eine Löschkartei einer Karteikarte aus der zentralen Personenkartei aufgefunden.“ Ich verstand Bahnhof. Und Kartei. Im nächsten Absatz tauchte das Wort gleich vier Mal auf. „Die Löschkartei war eine Sonderkartei des MfS. Sie enthält Karteikarten, die der zentralen Personenkartei entnommen wurden und zur Vernichtung bestimmt waren.“ Ich sollte eine Karteileiche sein?

Eine Kopie der Karteikarte war beigelegt. Der war zu entnehmen, dass ich im Januar 1989 von der HVA, der Hauptverwaltung Aufklärung, in einem Sicherungsvorgang erfasst wurde: XV 5664/88. Die HVA, informierte mich der Bundesbeauftragte, befasste sich hauptsächlich mit Auslandsspionage. Langsam dämmerte es mir. Ich hatte beruflich mit Spaniern zu tun. Hatte die Stasi gehofft, ich könnte ihnen bei der Auslandsfeind-Erkundung behilflich sein? Die Anwerbeversuche müssen so subtil oder ungeschickt gewesen sein, dass ich sie nicht einmal wahrgenommen habe.

Leider wurde das Archiv der HVA mit Billigung der letzten DDR-Regierung offensichtlich vernichtet, sodass Aussagen über die Gründe der Erfassung nicht möglich sind. Wieder und wieder schaute ich die Karteikarte an. Name, Vorname, Personenkennzahl, Geburtsort, Anschrift, Tätigkeit, Registrierungsnummer und ein handschriftlicher Vermerk „gelö. IV/89“. Nach drei Monaten wurde ich gelöscht. Wirklich aufschlussreich war das alles nicht.

Ich überlegte, einen dritten Anlauf zu starten. Noch einmal nahm ich mir die Karteikarte vor. In der Rubrik „Tätigkeit“ wurde ich plötzlich stutzig. Da stand: „Grassmuseum“. Vor der Arbeit mit den Spaniern war ich im Leipziger Völkerkundemuseum tätig, dem Grassimuseum. Erst jetzt fiel mir auf, dass die Spitzel festgehalten hatten, ich hätte in einem Museum über Günter Grass gearbeitet, der mit dem ausgebürgerten Liedermacher Wolf Biermann befreundet war. Mit der Arbeitsstelle „Grassmuseum“ musste ich für die Auslandsspionage interessant sein. Endlich habe ich verstanden.

Fragen zu Grass? kolumne@taz.de MORGEN: Dieter Baumann über LAUFEN