Mogeln ist verboten

STADTLEBEN Seit 13 Jahren wird in Hamburg-Barmbek autofrei gewohnt. Der verbriefte Verzicht aufs Auto schafft Raum für das gemeinsame Leben der Baugemeinschaften. Statt Garagen gibt es Fahrradkeller mit Rampen und Bootsliegeplätze. Demnächst sollen zwei Carsharing-Stellplätze eingerichtet werden

■ Möglich geworden ist das autofreie Wohnen durch eine Änderung der Hamburger Stellplatzverordnung.

■ Verpflichtungserklärung: Wenn die Bewohner schriftlich auf private Autos verzichten, kann die Zahl der vorgeschriebenen Parkplätze stark verringert werden.

■ Befristete Ausnahmen von der Autofreiheit sind möglich, wurden aber in den vergangenen Jahren nur sehr selten genutzt.

■ Ein weiteres realisiertes Projekt in Hamburg ist neben der Saarlandstraße die Initiative „Kornweg“ in Klein Borstel (www.autofreieswohnen.de).

■ Angedacht sind weitere Projekte in Winterhude und Altona.

■ Für Besucher und Lieferanten werden einige wenige Parkplätze vorgehalten.

■ Als Standorte eignen sich Quartiere in Sackgassenlage mit gutem Bus- und Bahnanschluss.

VON DANIELA BARTH

Krasser kann der Gegensatz kaum sein: Nur ein paar Meter von der Lärm umtosten vierspurigen Saarlandstraße entfernt existiert – direkt am Osterbekkanal – eine stille Idylle. Eine autofreie Idylle. Dort, wo sonst Autos parken würden, blüht und grünt es üppig – die Bewohner haben auf ihrem „Grabeland“ kleine Gärten angelegt, die großzügigen Innenhöfe sind terrassenförmig bepflanzt, es gibt einladende Sitzecken, große Sandkisten und Spielgelegenheiten und auf dem knapp drei Meter breiten Fußgängerboulevard tummeln sich Wakeboard oder Bobbycar fahrende Kinder. Hier treffen sich auch die Nachbarn auf ein Schwätzchen.

„Ich finde es richtig schön hier“, schwärmt der Paketzusteller Christopher Senz, der seit zwei Jahren das autofreie Viertel anfährt. Regelmäßig, wie er sagt, denn die Bewohner bestellten recht viele – auch mal sperrige – Dinge. „Logisch, die haben ja kein eigenes Auto“, grinst Senz und ergänzt: „Hier stehe ich mit dem Transporter niemandem im Weg, kein Kind springt hier plötzlich zwischen einem Auto hervor. Es gibt einen ausgewiesen Parkplatz für Anlieferer.“

Die Wohnwarft, eine kleine selbstverwaltete Genossenschaft, hat im Jahr 2000 zusammen mit der Eigentümergruppe „Barmbeker Stich“ und dem betreuten Wohnen „Leben mit Behinderungen“ die ersten 63 Wohnungen auf dem Gelände am Osterbekkanal gebaut – mit nur acht Auto-Stellplätzen für Anlieferer und Besucher der Siedlung. In den folgenden Jahren sind weitere autofreie Wohnungen auf dem Gelände von der GWG Gesellschaft für Wohnen und Bauen, der Baugenossenschaft Fluwog-Nordmark und vom Verein Leben mit Behinderungen gebaut worden; insgesamt sind es jetzt 160 Wohnungen. Hier leben fast 400 Menschen im Alter von null bis 84 Jahren.

„Als wir vor gut 13 Jahren das erste autofreie Wohnprojekt Hamburgs in Barmbek-Nord an der Saarlandstraße bezogen, waren – je nach Perspektive – die Erwartungen und die Skepsis gleichermaßen hoch: Würde sich die Idee des Lebens und Wohnens ohne ein eigenes Auto bewähren?“, erinnert sich Rainer Licht, der zur Wohnwarft gehört. Inzwischen kann der Vater zweier Söhne ohne Einschränkung sagen: „Der Verzicht auf ein eigenes Auto hat nicht zu einem Verlust an, sondern im Gegenteil, zu einer Steigerung der Lebensqualität geführt.“

Denn der damit einhergehende Verzicht auf Stellplätze und eine Tiefgarage bedeute: „Wir konnten sehr viel an Geld und an Freiflächen einsparen; diese Ressourcen haben wir dann anders eingesetzt.“ Rampen führen in den Keller mit geräumigen Fahrradräumen und Werkstätten; zusätzlich gibt es Fahrradhäuschen direkt vor dem Haus. Großzügige Spielflächen, ein Volley- und Basketballfeld, Mietergärten, Grünflächen und Sitzgruppen im Freien runden das Bild ab. Es gibt eine Regenwasseraufbereitungsanlage für die Waschmaschinen, ein Blockheizkraftwerk und Solaranlagen. Alles wird in Eigenarbeit gepflegt. Es gibt Gemeinschaftsräume wie einen Tischtennis- und Kickerraum und einen Tobekeller, einen eigenen Bootssteg und einen Bootskeller.

Die Leute seien hier eben anders mobil, sagt Jörg-Michael Sohn, einer der Gründerväter des Wohnprojekts. Der 60-jährige Verkehrspsychologe gehört zum Vorstand des Vereins „Autofreies Wohnen“ wie auch zum Verwaltungsrat der Eigentümergruppe Barmbeker Stich. „Wir bewegen uns zu Fuß, mit dem Fahrrad, Bus oder Bahn“, sagt er. Die Anbindung an das öffentliche Verkehrssystem sei hier nachgerade ideal.

„Ein Fahrradanhänger ist total wichtig“, sagt Jochen Schmidt, der seit 2009 als autofreier Mieter Am Eisenwerk bei der Fluwog lebt. „Ich habe mich mit einigen Nachbarn zusammengetan und einen richtig stabilen angeschafft, den wir dann je nach Bedarf benutzen“ – sei es für größere Einkäufe oder um Elektroschrott wegzubringen. Viele Bewohner lassen sich regelmäßig beliefern: von der Bio- bis zur Getränkekiste.

Wie Ruth Moritz, die in drei Wochen ihr fünftes Kind erwartet. „Überhaupt kein Problem“, antwortet die Verwaltungsangestellte gelassen auf die Frage, wie sie das denn mit so vielen Kindern geregelt kriege. Das sei alles eine Frage der guten Organisation. Ihre Kinder habe sie schon frühzeitig an den öffentlichen Nahverkehr herangeführt: „Die kennen das nicht anders.“ Sie weiß vor allem die Möglichkeit zu schätzen, dass sie ihren Nachwuchs schon im Vorschulalter alleine raus zum Spielen schicken kann: „Wir sind hier eine Gemeinschaft, leben gemeinsam die Idee ,Autofrei‘ und unterstützen uns gegenseitig. Wir können uns hier gar nicht aus dem Weg gehen. Wollen wir auch nicht.“

Ist es eine verschworene Gemeinschaft von Autohassern? Rainer Licht protestiert: Mitnichten sei das so! Klar, man habe klare Regeln was den Besitz eines Autos betrifft – und Mogeln gilt nicht. „Das funktioniert wirklich“, beteuert auch Jörg-Michael Sohn, der davon überzeugt ist, dass das hier gelebte Prinzip der Selbstorganisation und Beteiligungskultur dazu führe, dass die Identifikation mit der Genossenschaft insgesamt hoch und die Fluktuation sehr gering ist. „Wir hatten in den 13 Jahren einmal den Fall, dass sich eine Bewohnerin gegen uns und für den Freund mit Auto entschieden hat“, erinnert sich Sohn. „Wir haben nix gegen Autos“, sagt auch Schmidt. „Wir wollen nur kein eigenes.“ Dafür würden jetzt aber in den nächsten Wochen Am Eisenwerk zwei Carsharing-Plätze eingerichtet. „Die Mehrheit von uns wollte das so. Damit man sich bei Bedarf dann doch mal eins leihen kann.“