Auf der wilden Seite

Härter als „Fight Club“, wuchtiger als Schwertkampffilme: Das Rotterdamer Filmfestival stellt neue Filme aus China vor

Bei Hao Yifeng sagt sich das Paar nicht, dass es der Wirklichkeit ins Auge sehen muss. Es haut sich aufs Auge

von SUSANNE MESSMER

Holland hat eben eine richtige koloniale Vergangenheit und nicht nur so eine verdruckste: Das ist der erste Gedanke, gegen den sich der deutsche Besucher kaum wehren kann, wenn er durch Rotterdams Straßen schlendert. Sie mögen nicht von berückender Schönheit sein, diese Straßen – aber diese vielen japanischen und javanischen und indischen Restaurants! Der Besucher entscheidet sich für ein chinesisches. Hier wird er feine Dim Sum kosten und mit der Chefin aus Hongkong über die Vorzüge der Küche aus Kanton plaudern. Und hier wird ihm plastisch klar: Es wäre ja komisch, wenn das Filmfestival von Rotterdam nicht zu den interessantesten Plattformen weltweit für Filme aus Asien gehören würde.

Es ist ein Eldorado, dieses Festival, wie sich anderntags bei der Sichtung des Katalogs bestätigt, während draußen auf den Straßen mit großem Tamtam und Drachentanz das chinesische neue Jahr gefeiert wird und man sich leicht das Trommelfell von bombastischen Böllerketten zerfetzen lassen könnte. Da werden nicht nur zahllose Filme aus Filmländern wie Thailand, Malaysia und Indonesien präsentiert, da werden auch unter dem Label „Filmemacher im Fokus“ 13 Filme des japanischen Regisseurs Nagasaki Shunichi vorgestellt. Neben fünf neuen philippinischen Filmen im offiziellen Programm gibt es die sieben wichtigsten der letzten Jahrzehnte, zusammengestellt von dem Filmkritiker Noel Vera. Es liegt also nahe, dass auch die Auswahl chinesischer Filme in Rotterdam aufregender ist als anderswo. Und tatsächlich stellt sich schon nach der ersten Durchsicht der chinesischen Filme, die hier noch bis Sonntag gezeigt werden, heraus: Hier geht es zur Sache. Wer immer noch glaubt, China sei ein Land, in dem vor allem hochglänzende Schwertkampffilme produziert werden, der wird in Rotterdam eines Besseren belehrt.

Beginnen wir mit „Dam Street“ und „Shanghai Dreams“. Beides sind Filme, die in den Achtzigerjahren spielen und die restriktive Atmosphäre in der Provinz kurz nach der Kulturrevolution zeigen. Beide beschreiben aus der Sicht einer Frau die sexuelle Prüderie und den Leistungszwang, in beiden Filmen scheitern die Frauen. „Shanghai Dreams“ ist ein autobiografisch inspirierter Film des Regisseurs Wang Xiaoshuai, der schon immer harte kritische Filme außerhalb der großen Studios drehte – zum Beispiel „Beijing Bicycle“. Mehr noch als um die Tochter geht es ihm um den verbitterten Vater, ein Opfer von Maos Landverschickung, der nach Schanghai zurück will und seine Tochter drillt – auf dass ihr einmal möglich sei, was ihm versagt geblieben ist. Er ist ein eindrucksvoller Vertreter der verlorenen Generation, was besonders dann sehr plastisch wird, wenn ihn seine Frau wegen seiner Weltfremdheit zusammenstaucht.

Die Regisseurin von „Dam Street“, Li Yu, wurde vor einigen Jahren durch den ersten chinesischen Film über eine lesbische Liebe berühmt. Diesmal konzentriert sie sich auf eine strenge Mutter. Xiao Yun wird als Teenager schwanger. Über Lautsprecher wird sie in der ganzen Stadt der Dekadenz bezichtigt und von der Schule verwiesen. Ihre Mutter überredet sie zum Kaiserschnitt, gibt das Kind zur Adoption frei und erzählt ihrer Tochter, es sei bei der Geburt gestorben. Die glänzende Zukunft, die Xiao Yun vor sich zu sehen glaubte, ist verdorben. Nach einem Zeitsprung sehen wir sie, die einmal die Beste in der Opernklasse war, wie sie billige Schlager zum Besten gibt. Fortan ist sie oft dabei zu sehen, wie sie Fische schuppt und der Mutter aggressiv ins Wort fällt.

Während Filme wie „Dam Street“ und „Shanghai Dreams“ auf die Attraktivität der großen Leinwand setzen, auf viel Musik und Naturaufnahmen, sind in Rotterdam auch zwei Debütfilme von sehr jungen Regisseuren zu sehen, die fast ohne Budget gedreht haben und sich daher ganz auf ihre Geschichte verlassen mussten. Beide Filme, sowohl „Taking Father Home“ von Ying Liang als auch „A Man and a Woman“ von Hao Yifeng, handeln von einer Kluft, die trotz des Wirtschaftswachstums in China immer größer wird. In beiden geht es eindrucksvoll um Menschen vom Land, denen die Stadt alles nimmt: Während „Taking Father Home“ von einem Jungen erzählt, der seinen Vater in der Stadt suchen geht, widmet sich „A Man and A Woman“ einem Mann und einer Frau, die zum Arbeiten nach Peking gekommen sind und dort völlig isoliert leben. Sie sind so aufeinander angewiesen, dass ihre Liebe kippen muss. Wie sie immer schlimmer aufeinander losgehen: Das übertrifft noch die ehelichen Kräche, die „Shanghai Dreams“ in Szene setzt. Diese beiden sagen sich nicht, dass sie der Wirklichkeit in Auge sehen müssen, sie schlagen sich aufs Auge.

Der stärkste Film in Rotterdam ist weder ein einigermaßen arrivierter noch ein budgetloser Film, sondern der eines Zöglings von Jia Zhang-Ke, dem wichtigsten Filmemacher der so genannten sechsten Generation. Han Jie zeigt in seinem Debüt „Walking on the Wild Side“ drei Jungs, die die Schnauze voll haben vom Leben auf dem Abstellgleis – von einer Gegend, in der es nichts gibt außer Kohlegruben.

Die Wucht, mit dem dieser Film eine Gewalttat an die andere schraubt, mit der diese Helden sich beschimpfen, betrinken, Mädchen vergewaltigen und anderen den Schädel einschlagen, erinnert an Filme wie „Fightclub“ – den Dreck und den Staub, die abgerissenen Hütten und die Aussichtslosigkeit jedes Fluchtversuchs dagegen hat man in dieser Brutalität noch nie gesehen. Mag sein, dass das Leben der Kohlekumpels und derer, die weder in den Schacht fahren wollen noch wissen, was sie sonst tun sollen, schon von anderen chinesischen Regisseuren berührt wurde, derart ruhelos und zerrissen wurde es bislang noch nicht ins Bild gesetzt. Es ist typisch für Rotterdam, dass dieser Film im Wettbewerb läuft. Und es wäre ein großes Glück, wenn er am Sonntag den Tiger Award gewinnen würde.