Indien garantiert seinen Bauern Arbeit

Die Regierung in Delhi garantiert der armen Landbevölkerung für jeweils 100 Tage im Jahr eine Beschäftigung bei öffentlichen Bauprojekten zum Mindestlohn. Kritiker fürchten die Kosten und Korruption, Befürworter erhoffen ländlichen Aufschwung

AUS BOMBAY REGINE HAFFSTEDT

Die indische Regierung hat gestern eines der größten und teuersten Arbeitsbeschaffungsprogramme der Welt begonnen. Das umgerechnet 2 Milliarden Euro teure ländliche Beschäftigungsprogramm garantiert jedem Bürger auf dem Land 100 Tage Beschäftigung im Jahr zu Mindestlöhnen. Damit erhalten Landbewohner ein Recht auf Arbeit, wenn auch nur für drei Monate und am unteren Ende der Lohnskala.

Das neue Programm gründet auf dem Lebensmittel-für-Arbeit-Programm, das seit mehr als dreißig Jahren im westindischen Staat Maharashtra läuft. Tagelöhner, Handwerker und Kleinbauern, die in der Trockenzeit wenig Arbeit finden, können sich bei öffentlichen Projekten wie dem Bau von Straßen, Staudämmen und Kanälen um Arbeit bewerben. Falls sie 15 Tage nach Antragstellung keinen Job bekommen, erhalten sie Arbeitslosengeld. Das neue Programm soll zunächst in den 200 ärmsten Distrikten eingeführt und bis 2008 auf alle 600 Distrikte ausgeweitet werden. Eine langjährige Forderung linker Parteien und unabhängiger Entwicklungsorganisationen wird Realität.

„Eine Beschäftigungsgarantie kann die Menschen vor Armut schützen und dauerhafte Infrastrukturen schaffen. Es würde die Landflucht mindern, könnte Dorfräte wieder beleben und Frauen mobilisieren. Es ist weit mehr als ein Sozialprogramm, es kann weitreichende Veränderungen ökonomischer, sozialer und politischer Natur auf dem Land anstoßen“, sagt Jean Dreze, Wirtschaftswissenschaftler der Universität Delhi und Mitarbeiter von Nobelpreisträger Amartya Sen.

Dreze hatte im Frühjahr 2005 eine 5.000 Kilometer lange Bustour durch Nord- und Zentralindien organisiert, um die Menschen in entlegenen Regionen mit der Beschäftigungsgarantie vertraut zu machen und Erfahrungen mit bereits laufenden Pilotprogrammen zu sammeln. Doch Letztere sind nicht immer ermutigend.

Die bislang regional begrenzten Lebensmittel-für-Arbeit-Programme versinken im Sumpf der Korruption. Immer wieder werden Fälle von Unterschlagung und Betrug aufgedeckt. So sollen etwa beim Bau einer Straßenbrücke in Zentralindien 60 Arbeitstage abgerechnet worden sein, obwohl tatsächlich nur 3 Tage Arbeit entlohnt wurden. Arbeiter klagen, die Vertragsunternehmen hielten sich nicht an die gesetzlich festgesetzten Mindestlöhne.

Die Befürworter des neuen Programms hoffen jedoch, dass neue Maßnahmen gegen die Korruption bald greifen. So besitzen die Bürger seit kurzem das Recht, von Behörden Auskunft über deren Arbeit zu erhalten und alle relevanten Unterlagen öffentlicher Projekte einzusehen und so zu kontrollieren. Zudem wurden die lokalen Selbstverwaltungsorgane gestärkt und damit die Möglichkeit der Dorfbewohner, Rechenschaft einzufordern.

Konservative und neoliberale Politiker kritisieren das Programm als zu teuer. Es werde die Konjunktur lähmen, fürchten sie. Doch linke Ökonomen verteidigen den Aufwand. Jayati Ghosh etwa schätzt, dass es jährlich etwas mehr als 6 Milliarden Euro kosten würde, allen Armen auf dem Lande Beschäftigung zu geben: „Das entspricht 1,5 Prozent des indischen Bruttosozialproduktes. Eine kleine Steuererhöhung würde die nötigen Ressourcen mobilisieren.“

Indien ist Atommacht und aufstrebende Wirtschaftsmacht. Aber immer noch leben hier mehr als 300 Millionen Menschen in bitterer Armut – mehr als in jedem anderen Land der Welt. Die „sozialistische Republik Indien“ ist kein Sozialstaat. Zwar existiert nach britischem Vorbild ein kostenloser Gesundheitsdienst, aber für viele Dorfbewohner ist das nächste Krankenhaus unerreichbar fern. Eine staatliche Rentenversicherung gibt es nicht. Der Staat unterhält eine Arbeitsvermittlung, zahlt aber keine Stütze. Und von Sozialhilfe können indische Bettler nur träumen.