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: In der Sankt-Matthäus-Kirche zu Berlin-Tiergarten

Das Gesicht Dietrich Bonhoeffers auf der Gedenktafel, die neben dem Eingang der Matthäuskirche hängt, wirkt geschunden, gefoltert. Die Augen eingedrückt, der Kopf gequetscht, als hätte jemand auf ihn eingeschlagen und die Symmetrie des Schädels verschoben. Von rechts muss der Schläger gekommen sein, denn diese Seite von Bonhoeffers Gesicht zeigt tiefere Spuren der Gewalt. Subtil gelingt es Johannes Grützke, dem Künstler, damit ein politisches Statement in seinem Werk zu verstecken.

Dass das Gesicht auf der Gedenktafel die Betrachterin dennoch fesselt, dass der Abgebildete mehr ist als nur Opfer, diese Mehrdeutigkeit spiegelt, was die Leute zu Bonhoeffer sagen. „Er hat eine Strahlkraft“, meint ein junger Mann. Wie sich später herausstellt, ist er der Sohn des Pfarrers, der später durch die Liturgie der ökumenischen Vesper führen wird. „Bonhoeffer ist eine Leitfigur der evangelischen Kirche“, antwortet eine ältere Frau auf die Frage, was der Kirchenmann ihr bedeute. Wieder eine andere meint: „Mein Vater war auch in der Bekennenden Kirche.“ Und eine dritte sagt: „Mit Bonhoeffer lebe ich. Seine Gedichte leiten mich.“ Kann sie eines auswendig? „Ja, sicher“, sagt sie: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiß an jedem neuen Tag.“

„Dietrich Bonhoeffer / geboren 4. Februar 1906 / hingerichtet am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg / wurde in dieser Kirche am 15. 11. 1931 zum Pfarrer ordiniert“ – so steht es auf der Bronzetafel. Am Sonntag würde er 100 Jahre alt. Auf der nachfolgenden „feierlichen Übergabe der Gedenktafel“ überschlagen sich die Worte: Die Tafel sei eine Aufforderung zum Huldigen. Es könne gehuldigt und mitgehuldigt werden. Die Huldiger gedächten eines zu Huldigenden. Eine Gedenktafel brächte die Leute zum Huldigen, auch wenn sie ohne zu huldigen vorbeigingen. Ja, sogar ohne Gedenktafel könne gehuldigt werden. Alles in allem ginge es um die Würdigung eines Würdigen. Bei diesem Exkurs ins Wesen der Lobpreisung, die Grützke, der Künstler, vorträgt, wird in der Kirche sogar aufgelacht. Später dann ist alles wieder sehr ernst. Wie mit dem Nachbarn in der Kirchenbank in Kontakt kommen? Meine Frage bleibt ohne Antwort. Da hilft mir der Staub – welcher Staub? – in der Kirche. Ich niese. „Gesundheit“, sagt er schwer atmend. „Asthmatiker“, denke ich. Mehr Wunder geschehen nicht, obwohl ich konzentriert daran denke, dass im Programm die Aufforderung fehlt, sich ein paar Minuten mit dem jeweiligen Banknachbarn über Bonhoeffer zu unterhalten. Dem Kirchen- und Widerstandsmann hätte es sicher gefallen. Der soll so unorthodox gewesen sein. „Stellen Sie sich vor, der hat sogar Tennis gespielt“, sagt der Laudator Helmut Reihlen in der kurzen Pause vor der ökumenischen Vesper. Zuvor hat er in seiner Rede ganz kurz vom Zweifler im Kirchenmann gesprochen. Im Gefängnis soll Bonhoeffer anderen Halt gegeben haben, während ihn selbst Ängste quälten.

Dann kommt die Vesper, die geistige Nahrung des Abends. Mariä Lichtmess wird gefeiert. Da schließe sich ein Bogen zu Bonhoeffer, sagt eine der meist in dunkle Mäntel gehüllten, grauhaarigen Frauen, die dem Festakt beiwohnen. Wie? Weil es um die Überwindung des Zweifels im Glauben ginge, antwortet sie. Geht das denn? „Bei Bonhoeffer schon.“ Ob sie sich sicher sei? „Ganz sicher.“ WALTRAUD SCHWAB