Armut halbiert, Hunger konstant

MILLENNIUMSZIELE Trotz wachsenden Wohlstands in einigen Staaten hat noch immer jeder achte Mensch weltweit nicht genug zu essen. Ein wesentlicher Grund dafür ist die wachsende Ungleichheit in vielen Ländern. Auf der UNO-Agenda steht das Thema aber noch nicht

Die erzielten Erfolge gehen fast ausschließlich auf das Konto der Volksrepublik China

VON NICOLA LIEBERT

BERLIN taz | Noch zweieinhalb Jahre sind Zeit, um die im Jahr 2000 beschlossenen Millenniums-Entwicklungsziele der UNO zu erreichen. Aber schon jetzt ist die Diskussion darüber, wie es danach weitergehen soll, in vollem Gange. Die Ergebnisse eines Beratergremiums, das UN-Generalsekretär Ban Ki Moon im vergangenen Sommer zur Frage der Post-2015-Entwicklungsagenda einberufen hatte, werden morgen in Berlin von einem Berater vorgestellt: dem früheren Bundespräsident und Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF), Horst Köhler.

Dabei sind bei den Millenniumszielen schon einige Erfolge zu vermelden. So ist Ziel Nummer eins, die Halbierung des Anteils der extrem Armen, wohl schon jetzt erreicht – und auch bei einigen anderen Zielen wie dem Zugang zu sauberem Trinkwasser, der Bekämpfung der Tuberkulose und dem Zugang von Mädchen zu Grundschulbildung sieht es in den meisten Weltregionen ganz gut aus. Aber wenn man genauer hinsieht, sind die Lücken gewaltig.

So blieb die Zahl der Unterernährten seit 1990 konstant hoch. Nach den jüngsten Schätzungen der UN-Organisation für Landwirtschaft und Ernährung (FAO) leiden immer noch 868 Millionen Menschen Hunger, das ist also jeder achte Mensch auf der Welt. Und das hat langfristige Folgen, so das Ergebnis einer jüngst in der Medizinzeitschrift Lancet veröffentlichte US-Studie. Denn die Unterernährung von Kindern beeinträchtigt ihre geistige Entwicklung und körperliche Leistungsfähigkeit auch in ihrem späteren Leben – und damit letztlich auch die wirtschaftliche Entwicklung ihrer Heimatländer. Die Staaten, in denen Hunger und Mangelernährung am weitesten verbreitet seien, hätten der Studie zufolge keine Chance, die Armut zu überwinden, solange sie ihre Bevölkerung nicht ausreichend mit den notwendigen Nahrungsmitteln versorgen können.

Die Bekämpfung des Hungers und der Armut gehen also Hand in Hand, doch gerade in Afrika gelingt beides nicht in ausreichendem Umfang. Immer noch muss dort ein großer Teil der Bevölkerung mit weniger als umgerechnet 1,25 US-Dollar pro Tag auskommen: mehr als die Hälfte in Angola etwa, zwei Drittel in Tansania und fast schon 90 Prozent in Kongo.

Trotz hohen Wirtschaftswachstums lebt auch in Indien immer noch jeder Dritte unterhalb der 1,25-Dollar-Grenze. In China hingegen sank der Anteil der absolut Armen seit 1990 von 60 auf nur noch 13 Prozent. Die Weltbank rechnet vor, dass von den 723 Millionen Menschen, die in den vergangenen drei Jahrzehnten der absoluten Armut entkamen, allein 680 Millionen Chinesen waren. Die Erfolge beim Erreichen der Millenniumsziele verdanken sich also praktisch allein China.

Dies weist auf ein Problem hin, das die Millenniumsziele vernachlässigten: die große und noch weiter wachsende Ungleichheit auf der Welt, zwischen den Ländern ebenso wie innerhalb der Länder. Indien etwa, das zu den Ländern mit den meisten unterernährten Kindern auf der Welt gehört, steht mit 122 Dollar-Milliardären auf der Liste der Superreichen inzwischen auf dem fünften Platz nach den USA, China, Deutschland und Großbritannien. Gerade in vielen Ländern mit extremer Armut, wie Angola, Haiti und Honduras, ist die Ungleichheit besonders groß.

Bei den Konsultationen zur künftigen Entwicklungsagenda hat die UNO deshalb Ungleichheit zu Recht als ein Thema vorgegeben – neben anderen Themen, die in den Millenniumszielen kaum Berücksichtigung fanden wie Arbeitsplätze, Energie, Bevölkerungswachstum, Konflikte und gute Regierungsführung.

Der neue Plan lautet nun: Bis 2030 soll die extreme Armut endlich beseitigt sein. Für die Post-2015-Agenda schlägt das UN-Beratergremium fünf Schwerpunkte vor: Menschenrechte und ökonomische Chancen für alle, nachhaltige Entwicklung, die Schaffung von Beschäftigung und damit Einkommen, Frieden und gute Regierungsführung sowie „eine neue globale Partnerschaft“.

Ungleichheit aber ist keines der Schwerpunktthemen mehr. Ihre Verringerung wird offenbar als automatische Folge von Wachstum, Beschäftigung und Bildung betrachtet – als hätte die Entwicklung in Ländern wie China oder Indien nicht das Gegenteil bewiesen. Selbst beim Hunger zeigt sich, dass die Verteilungsfrage nicht außer Acht gelassen werden darf. So wies die FAO unlängst in ihrem Jahresbericht darauf hin, dass Hunger und Übergewicht zwei Seiten derselben Medaille seien. Global werde Nahrung zwar reichlich produziert, aber eben nicht vernünftig verteilt.