Schnee auf roten Fahnen

Heiligenverehrung auf sozialistisch: Genossen, Gewerkschafter und Friedensbewegte erinnern auf dem Waller Friedhof an das Ende der Bremer Räterepublik. Die Köpfe der Aktiven sind ergraut, doch der revolutionäre Elan ist ungebrochen

Bremen taz ■ „Sie hätten sich auch ein anderes Datum aussuchen können für ihre Revolution“, findet Fritz Bolte. Winzige Schneeflocken rieseln auf rote Nelken und rote Fahnen. Rund hundert Genossinnen und Genossen ziehen die Köpfe tiefer zwischen die Schultern, wickeln die Schals fester.

Fritz Bolte ist jedes Jahr dabei, wenn auf dem Waller Friedhof des blutigen Endes der Bremer Räterepublik gedacht wird – seit 1949, als die Tradition nach der Nazi-Zeit wieder aufgenommen wurde. „Damals demonstrierten hier 2.000, 3.000 Menschen“, weiß er. Der neunjährige Fritz mittendrin. Schon seine Eltern waren politisch aktiv, die Großmutter hat die kommunistische Partei in Bremen mitgegründet. Pubertäre Rebellion, liebäugeln mit bürgerlichen Annehmlichkeiten? Niemals! „Ich mache mir eher Gedanken, dass meine Töchter bei der Stange bleiben“, sagt er augenzwinkernd.

„Eine Zeit lang sah es ja so aus, als ob wir Unrecht hätten“, erinnert er sich an die Nachwendezeit. Aber jetzt zeigten sich die Ungerechtigkeiten des Systems umso offensichtlicher: „Meine Tochter hat fünf Kinder und weiß nicht, wie sie über die Runden kommen soll.“ Axel Troost, Bundestagsabgeordneter der WASG, argumentiert in seiner Rede ähnlich: Nachdem die Hoffnungen auf Rot-Grün gescheitert seien, habe man mit der Suche nach Alternativen begonnen: die Revolution einst, das Erstarken der Linken heute. Seine Ziele formuliert Troost – in Anlegung an 1918 – vollmundig: Vollbeschäftigung und „Eingrenzung der Macht des Kapitals“, und zwar durch Vergesellschaftung, wenn es mit der Arbeitnehmer-Mitsprache nicht klappt.

Die Organisatoren um die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) wären froh, wenn sich Hartz-IV-Frust und linker Aufwärtstrend auch in der Teilnehmerzahl niederschlagen würden. Doch das kann Raimund Gaebelein von der VVN nicht erkennen. Zudem vermisst er die Beteiligung der SPD. Nach großen Anstrengungen zum Genossen-Schulterschluss gedachten in den Neunzigerjahren SPD, Gewerkschaften, Deutsche Kommunistische Partei, Friedensforum und diverse stramm linke Gruppen gemeinsam. Doch mit der großen Koalition waren diese Zeiten vorbei. „Dabei hört man nur Wohlwollendes, wenn man die SPD auf den Gedenktag anspricht“, sagt Gaebelein.

„Wir müssen aus der Geschichte lernen“, findet die 16-jährige Kathrin Kammrad. „Vielleicht schaffen wir ja noch einmal so etwas wie 1918.“ Damals meuterten die Matrosen in Kiel, der Kaiser dankte ab, und in mehreren deutschen Städten wurden Räterepubliken ausgerufen. Unter anderem in Bremen. Die Bremer Räte führten in den drei Monaten ihrer Herrschaft den 8-Stunden-Tag ein, begannen Reformen im Schulwesen, wollten die Produktion am Laufen halten. Doch die Banken verweigerten ihnen Kredite, und die Handelskammer forderte militärische Unterstützung gegen die friedlichen Revolutionäre an. 70 Menschen starben bei der Niederschlagung der Räterepublik.

Eine Revolution im 21. Jahrhundert – wie das? „Schwierige Frage. Dazu muss man erstmal viel lesen.“ Kathrin liest Marx und spielt Brecht in ihrer Theatergruppe, kennt sich mit Lenin und mit der französischen Revolution aus. Sie ist mit ihren Eltern hier, genau wie seinerzeit Fritz Bolte. Bei ihren Mitschülern beobachtet sie eher Desinteresse an revolutionären Ideen. Auch auf dem Waller Friedhof dominieren die grauen Haarschöpfe. Dazwischen Kathrin mit der roten Fahne. Annedore Beelte