Aus der Käseglocke direkt ins Asoziale Netzwerk

Unter Torheit der Regierenden versteht man ja nicht so sehr gewöhnliche Dämlichkeit, sondern jene Dummheiten, mit denen sie sich letztendlich selbst am meisten schaden; Dummheiten, die sie aus vergleichsweise komfortablen Lagen erst in missliche bringen. Solche Torheit kann natürlich simple Dummheit zur Ursache haben, aber auch schlicht mangelnden Kontakt zur Wirklichkeit und die Arroganz der Macht.

Wie es mit Recep Tayyip Erdogan weitergehen wird, wissen wir nicht, aber eines wissen wir schon: Vor drei Wochen war er noch ein erfolgreicher Premier, der drei absolute Mehrheiten hintereinander gewonnen, sein Land ökonomisch auf Prosperitätskurs gebracht und wohl die Mehrheit der Türkinnen und Türken hinter sich hatte. Oder besser: die Mehrheit hinter sich und die Minderheit, die mit seinem islamischen Konservativismus nicht harmonierte, jedenfalls nicht besonders gegen sich.

Er war also in einer bequemen Lage: Er war nicht nur absolut regierender Premier, sondern hatte einen schönen Batzen gesellschaftliche Legitimation. Eine kleine Protestbewegung, die sich noch dazu gegen ein lokales Bauvorhaben gebildet hat, sollte so jemanden eigentlich nicht aus der Spur bringen. Wenn man als Premier so dasteht, hat man alle Spielräume der Welt: zu verhandeln, (soziokulturellen) Minderheiten großzügig entgegenzukommen oder nach dem Prinzip „Teile und herrsche!“ zu verfahren. Kurzum, man hat tausend Optionen, unbeschadet oder sogar gestärkt eine solch kleine Herausforderung zu meistern.

Blöd wird es nur, wenn man nicht versteht, was überhaupt vorgeht; wenn einem die absoluten Mehrheiten und die unangefochtene Position zu Kopf steigen; wenn man sich für den Größten und die anderen nur für depperte Querulanten hält. Und wenn man dann auf Handlungen setzt, die Indifferente oder sogar Teile der Anhängerschaft in Gegner verwandeln.

Das ist dann ganz dumm.

Dass solche unnötige Selbstbeschädigung nicht immer den Regierenden vorbehalten ist, sondern auch den Opponierenden, das beweist im Wochentakt die SPD. Diesmal: Der alte Steinbrück-Sprecher wird ausgetauscht, und der neue – Kleine, Rolf mit Namen – erweist sich offenbar prompt auch als Fehlgriff. Nun gut, wenngleich wir uns aus der Ferne da kein voreiliges Urteil anmaßen wollen, ist es doch so, dass solche Jobs heute von einem bestimmten Menschentyp bekleidet werden: von Media-Professionals, die wie Media-Professionals aussehen, sich wie Media-Professionals bewegen und mit anderen Media-, Politics-, oder Consultant-Professionals unter einer Käseglocke leben. Man kopiert den Lebensstil der anderen oder versucht mit dem der anderen mitzuhalten und pflegt den milieutypischen Habitus, wozu eine Prise ästhetische Unangepasstheit durchaus gehören kann, weshalb in dieser Welt ja auch viele Leute diese Nerdbrillen tragen, die sie als unverwechselbare Individuen ausweisen sollen, aber den Nachteil haben, dass sie den Nerdbrillen der anderen zum Verwechseln ähneln. Auch das ist eine Käseglocke, die ihre eigene Wirklichkeit schafft, was nur ein anderes Wort für Realitätsverlust ist. Kurt Kister hat das vergangene Woche in der SZ so beschrieben: „Viele Menschen außerhalb von Berlin nehmen kaum wahr, was die Besatzung der Berliner Polit-Käseglocke so täglich treibt. Andererseits glauben nicht wenige jener, die innerhalb der Käseglocke Politik machen oder sie im weiteren Sinne beeinflussen wollen oder auch nur über sie reden, dass sie den Mittelpunkt wenn nicht der Welt, so doch den Deutschlands bilden.“

Solcher Realitätsverlust hat im Sinne dessen, was Max Weber die „funktionale Differenzierung“ nannte oder Luhmann die „Autopoiesis der Subsysteme“, gewiss seine Unumgänglichkeit. Soll heißen: Das Referenzmilieu für die Political Professionals sind nicht die Bürger, sondern die anderen Political Professionals. Von den Bürgern, besser bekannt als „die Menschen draußen im Lande“, hat man nur vage Vorstellungen.

Die Einzigen, die theoretisch exakt wissen, wie die Menschen ticken, sind die Geheimdienste mit ihren Datenabsaugmaschinen, die freilich stets vor dem Problem stehen, dass sie derart viel wissen, dass sie am Ende nichts wissen.

Diesen Text, von dem sie viel lernen können, hätten unsere Freunde von der amerikanischen National Security Agency glatt übersehen, würde ich ihn nicht, und zwar exakt jetzt, mit hübschen Catchphrasen wie jihad, Marathon, Manhattan, bridge und Composite Compound 4 versehen haben. Vielleicht sollte man, wie Friedrich Küppersbusch anregte, denen direkt eine Freundschaftsanfrage an ihr „Asoziales Netzwerk“ senden.

ROBERT MISIK