Rätselraten nach Priestermord in der Türkei

Mutmaßlicher Todesschütze nach der Tat in Trabzon flüchtig. Politiker und Medien gehen von gezieltem Attentat aus

ISTANBUL taz ■ Mit deutlichem Entsetzen reagierten türkische Politiker und die wichtigsten Medien des Landes auf den Mord an einem italienischen Priester in der Schwarzmeerstadt Trabzon. Als am Sonntagnachmittag in Beirut das dänische Konsulat brannte und in Istanbul 2.000 islamische Fundamentalisten demonstrierten, schien die Meldung aus Trabzon zunächst wie die nächste Eskalationsstufe in einem drohenden Religionskrieg. „Wir verurteilen diese hassenswerte Tat aufs Schärfste“, beeilte sich Regierungssprecher Cemil Cicek denn auch kurz nach dem Mord zu versichern, und auch Außenminister Gül betonte gestern noch einmal, es werde alles getan, um den „abscheulichen Mord“ aufzuklären.

Nach Augenzeugenberichten klingelte ein 16- bis 18-jähriger Jugendlicher nach der Sonntagsmesse gegen 15 Uhr an der Tür der Pfarrei Santa Maria. Als der Priester Andrea Santaro öffnete, schoss ihm der Jugendliche drei Kugeln in die Brust und verwundete ihn tödlich. Der Täter konnte flüchten und ist nach wie vor trotz einer Großfahndung der Polizei auf der Flucht.

Obwohl die Motive des Mörders unklar sind, gehen mittlerweile sowohl die Offiziellen als auch lokale Medienvertreter davon aus, dass es sich um keine spontane Tat in Zusammenhang mit den Protesten gegen die Mohammed-Karikaturen handelt, sondern um ein gezieltes Attentat gegen den 60-jährigen katholischen Priester Andrea Santaro.

Wie der Gouverneur der Provinz Trabzon, Hüseyin Yavuzdemir, in einem Interview sagte, habe es bereits in der Vergangenheit Drohungen gegen den Priester gegeben. Vor allem ultranationalistische Kreise, die in Trabzon sehr stark sind, warfen dem Priester vor, durch Missionsarbeit Muslime zum Christentum bekehren zu wollen.

Christliche Mission gilt in weiten Kreisen der türkischen Öffentlichkeit als illegal und verwerflich. Vor allem Nationalisten reagieren geradezu paranoid auf tatsächliche oder vermeintliche christliche Missionare, weil diese angeblich zur Spaltung der Türkei beitragen. Begründet wird dies mit Erfahrungen aus der Endphase des Osmanischen Reiches, als auswärtige Mächte angeblich einheimische Christen und Missionare zur Zerschlagung des Reiches nutzten.

Besonders in Trabzon hat dieses Geschichtsverständnis viele Anhänger, weil die Stadt vor rund 500 Jahren die Hauptstadt des unabhängigen Reiches der Pontus-Griechen war. Nationalistische Verschwörungstheoretiker beklagen daher vor allem dort die „christliche Gefahr“, weil die Griechen angeblich ihren Staat dort wieder errichten wollen.

Möglich, dass Andrea Santaro, der erst vor zwei Jahren nach Trabzon gekommen war, aber sehr aktiv und öffentlich präsent gewesen sein soll, dieser Paranoia zum Opfer gefallen ist. In den türkischen Medien wird vor allem darüber spekuliert, ob der Mörder ein Einzeltäter war oder eine Organisation dahinter steht. Der italienische Konsul, der gestern nach Trabzon eilte, vermutete einen möglicherweise verwirrten Einzeltäter. Außenminister Gül sprach ebenfalls von einem Einzeltäter, erklärte jedoch, die Polizei sei gefordert, auch nach eventuellen Hintermännern Ausschau zu halten.

JÜRGEN GOTTSCHLICH