Blumen auf dem Taksim-Platz

KONFRONTATION Regierungsgegner und Polizei liefern sich am Sonntag erneut Straßenschlachten. Hunderttausende demonstrieren für Erdogan

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Nach der gewaltsamen Räumung des Gezi-Parks in Istanbul am Samstagabend stehen die Zeichen in der Türkei weiterhin auf Konfrontation. Zehntausende Menschen versammelten sich am Sonntag in Istanbul zu neuen Demonstrationen. Nach einem Aufruf der Protestbewegung versuchten die Demonstranten, aus umliegenden Stadtvierteln in Richtung des abgeriegelten Taksim-Platzes zu gelangen. In mehreren Vierteln kam es zu heftigen Zusammenstößen. Als Reaktion auf die Protestwelle gegen ihren Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan versammelten sich aber auch Hunderttausende Unterstützer der Regierungspartei AKP in Istanbul. In einer Rede vor seinen Anhängern warf Erdogan den internationalen Medien vor, sie berichteten falsch über sein Land.

Der Taksim-Platz und der angrenzende Gezi-Park glichen am Sonntagnachmittag einem hermetisch abgeriegelten Baugelände. Außer Journalisten hatte niemand Zutritt zum Stadtzentrum, wo Arbeiter versuchten, jede Erinnerung an die Proteste auszumerzen. Graffiti wurden mit grauer Farbe überpinselt, Lkws mit den Zelten, Infoständen, dem Lazarett und Medikamentenspenden beladen. Auf dem Taksim-Platz bepflanzten Arbeiter die von der Polizei zertrampelten Grünflächen neu. Polizeikräfte standen bereit, um jeden neuerlichen Demonstrationsversuch niederzuknüppeln. Die Bilanz der Nacht zum Sonntag ist erschreckend: hunderte Verletzte und eine noch unbekannte Zahl von Festnahmen.

Die Vorsitzende der Grünen, Claudia Roth, die sich am Samstagabend just zu Beginn der „polizeilichen Maßnahmen“ im Gezi-Park befand, hatte am Sonntagvormittag noch Mühe, für die Geschehnisse Worte zu finden. Es sei „eines der schlimmsten Erlebnisse meines Lebens“ gewesen, wie Flüchtige und Verletzte zusammengedrängt in der Lobby des an den Gezi-Park angrenzenden Divan-Hotels mit Tränengas beschossen wurden. Roth warnte allerdings davor, „die Brücken zur Türkei jetzt abzubrechen“. Deutschland und Europa müssten vielmehr die Protestbewegung unterstützen und gleichzeitig den EU-Beitritts-Prozess wieder aktivieren. In Deutschland haben Filmschaffende und Schriftsteller in einem offenen Brief an Kanzlerin Angela Merkel (CDU) appelliert, für die Beendigung der Gewalt einzutreten.

Die Demonstrationen im Anschluss an die Räumung beschränkten sich nicht auf die Umgebung des Taksim-Platzes. Auch in anderen Vierteln Istanbuls und etlichen weiteren Städten gingen Tausende auf die Straße. Mehrere zehntausend Menschen, die in der Nacht vom asiatischen Teil Istanbuls über die Bosporusbrücke zum Stadtzentrum marschieren wollten, wurden vom Militär gestoppt.

Unterdessen versuchen die Behörden und Arbeitgeber, Unterstützer der Bewegung unter Druck zu setzen. Verschiedene Platzbesetzer sind von ihren Arbeitgebern gekündigt worden. Das Gesundheitsministerium hat angekündigt, gegen Mediziner zu ermitteln, die Verletzte versorgt haben. Für den heutigen Montag haben mehrere Gewerkschaften Unterstützungsaktionen angekündigt. Auch einen Streik erwägen sie.