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Hörend und fühlend durch die Stadt

FESTIVAL Totale Orientierungslosigkeit, kaum Zeitgefühl: ein Stadtspaziergang mit verbundenen Augen

Kaum zu glauben, was eine einfache schwarze Schlafmaske, wie man sie auf Flügen bekommt, verändert. Der blinde Stadtspaziergang beginnt in der Buchhandlung Ocelot in der Brunnenstraße. Konzipiert wurde er für das Clang Cut Book Festival, das Kammerensemble Neue Musik Berlin hat Musiker und Literaten aus Deutschland und Argentinien eingeladen, sich mit der Klangkulisse ihrer Stadt zu befassen. Die Texte, die zu diesem einstündigen Spaziergang am Rosenthaler Platz gelesen werden, stammen vom Schriftsteller und taz-Autor René Hamann.

Im ersten Moment: Totale Verunsicherung, Schwierigkeiten mit dem Gleichgewichtssinn, obwohl jeder der fünfzehn Teilnehmer einen persönlichen Guide zur Hand hat. „Wo kommt Sprache her?“, klingt der angenehm lakonische Text vom Band.

Wir laufen zuerst durch etwas, das sich wie eine Hofeinfahrt anfühlt. Es ist, als würde der Raum gleichzeitig schrumpfen, weil man nicht so weit hören kann wie sehen – sich aber auch erweitern, weil plötzlich Dinge in großer Intensität wahrnehmbar werden, die sehend belanglos sind. Allgemeine Orientierungslosigkeit, auch kaum Zeitgefühl mehr. Es ist zu fühlen, ob es links oder rechts an einer Mauer entlang geht, ob sich der Raum öffnet, ob die Kreuzung, die zu passieren ist, eher groß ist oder klein. Rauscht da eine Klimaanlage? Kann man hier die Flugzeuge von Tegel hören?

Wir laufen an Dönergerüchen vorbei, jemand ruft: „Die Nummer sechs, bitte!“ Es duftet nach Hefeteig und geschmolzenem Käse: italienische Gesprächsfetzen. Und schon verändert sich die Raumstimmung wieder, der Boden unter den Füßen fühlt sich nicht mehr nach Berliner Kopfsteinpflaster an, sondern nach glatten Kacheln. Es ist stickig, Registrierkassen piepsen. Die Ackerhalle vielleicht? Wieder der Text von Hamann. „Etwas unheimlich, nicht?“, sagt er. Und erzählt dann etwas von Hybridautos, die so leise sind, dass man ihnen Geräusche geben will.

Es geht zurück auf die Straße, plötzlich Wiese unter den Füßen, das muss der Volkspark am Weinbergsweg sein. Es ist Abend, die Amseln singen, die Linden duften. Eine Teenagerin mault herum. Was so eine kleine Schlafmaske verändern kann: Das sollte jeder mal versuchen, der ein bisschen müde geworden ist, sehend durch die Stadt zu laufen.

SUSANNE MESSMER

■ Heute noch einmal um 19 Uhr, Buchhandlung Ocelot, Brunnenstraße 181, 8 Euro. Festival bis 22. Juni, clangcutbook.com

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