Stunde der Kulturkrieger

Die Machtlosigkeit vieler AraberInnen, ihre Alltagsprobleme zu lösen, macht sie für islamistische Propaganda anfällig

AUS KAIRO KARIM EL-GAWHARY

Nachbarin Umm Rami hat gestern ein Schild an die Eingangspforte ihres Wohnhauses in Kairo gehängt. Es fordert alle Bewohner des Hauses auf, zu fasten und zu beten, „damit Gott uns die Stärke gibt, jene, die unseren Propheten Muhammad beleidigt haben, zu zerstören“. Die gleiche Auforderung wurde am Abend zuvor per SMS an alle Hausbewohner versendet.

„Was soll man davon halten?“, fragt der Pförtner, ein ehemaliger Bauer aus dem südlichen Oberägypten, von allen liebevoll Onkel Ahmad genannt. Ob er nicht glaube, dass wir andere Probleme hätten, als ein paar Karikaturen in einem bislang praktisch nie gehörten Land namens Dänemark, lautet die Gegenfrage. Die Hälfte der ägyptischen Jugendlichen hat keine Arbeit. Vor wenigen Tagen wurde die Inkompetenz staatlicher Institutionen erneut unter Beweis gestellt, als 1.000 Menschen wahrscheinlich völlig unnötig aufgrund der Fehlentscheidung des Kapitäns und einer gnadenlos verpatzten Rettungsaktion im Roten Meer ertrunken sind. Und dann im Nachbarland der israelisch-palästinensischen Konflikt und am Horizont einen Bürgerkrieg im Irak. Onkel Ahmad lächelt müde, ob aus Zustimmung oder aus Mitleid, weil sein Gegenüber immer noch nicht die Tragweite der Prophetenbeleidigung verstanden hat, bleibt offen.

Im Kairoer Büro des Berichterstatters schlägt dann die andere Seite des Kampfs der Kulturen zu. Das Telefon klingelt: eine Kollegin eines deutschen Rundfunksenders. „Herr Gawhary, können wir mit Ihnen ein Gespräch über die Karikaturen führen.“ Ja. „Ach übrigens, sind sie eigentlich Muslim?“ – Das ist das dritte Mal innerhalb von 48 Stunden, dass Kollegen dies fragen. Eine Frage, die in 15 Jahren als Nahostkorrespondent kein einziges Mal zuvor von dieser Seite gestellt worden war. Bisher gab es diese Schubladenfragen nur in Ägypten: „Bist du Muslim oder Christ“ lautete die Preisfrage. Eine Frage, die mit der zunehmenden Islamisierung der Gesellschaft mehr und mehr Bedeutung gewonnen hat und jetzt gestellt wird – jetzt auch aus Europa.

Die Stunde der Kulturkrieger hat allerorten geschlagen. Die Gegenfrage an Onkel Ahmad war falsch: Gerade weil es so viele andere Probleme gibt, sind die Karikaturen zum Hauptproblem geworden. Machtlos stehen die Menschen diesen Problemen gegenüber, ohne Chance, die Entscheidungen jener zu beeinflussen, die die Krisen mehr schlecht als recht für sie verwalten sollen. „Es ist allemal einfacher gegen irgendetwas von außen zu demonstrieren, als gegen das eigene Regime. Gefahrlos können die Menschen dort ihren angestauten Frust loswerden“, meint Hischam Qassem, der Chefredakteur der unabhängigen ägyptischen Tageszeitung Al-Masri Al-Yom. Will heißen, die Lunte für die Karikaturenbombe verlief durch den Irak, Palästina/Israel und durch die eigenen Länder, mit unfähigen, nicht zeitgemäßen Regimes, die nichts zur Lösung der Probleme beitragen. Stets begleitet von dem Gefühl, vom Westen immer untergebuttert zu werden.

Dann wird da plötzlich der Prophet beleidigt, und was dann ausbricht ist ein regelrechter Wettbewerb, „wer liebt und verteidigt den Propheten mehr“. Umm Rami kann ihren Nachbarn von ihrer Islamfestigkeit überzeugen und zum Protest aufrufen und ihren Frust loswerden, ohne irgendwelche Repressionen des eigenen Regimes fürchten zu müssen.

Und die Regime selbst? Sie gehören zu den Hauptverdächtigen in der Karikaturen-Eskalation, meint Chefredakteur Qassem. Als „eine geniale Ablenkung von ihrem eigenen Scheitern“ beschreibt er das. Überhaupt stellen einige wagemutigen Journalisten inzwischen unangenehme Frage. „Warum gab es keine offiziellen Proteste als israelische Siedler einmal den Propheten als Schwein abgebildet hatten oder als der Koran im von den Amerikanern verwalteten Guantánamo-Gefängnis entweiht wurde“, fragt Ibrahim Eissa in der ägyptischen Zeitung Saut al-Umma. Das politische Leichtgewicht Dänemark sei für die arabischen Herrschenden keine Gefahr. „Die gleichen Herrschenden verlieren kein Wort, wenn der muslimische Glauben in den USA oder sogar in Israel beleidigt wird“, schlussfolgert er.

Der Ärger der gläubigen Menschen ist verständlich, der der Regierungen aber ein politisches Spiel, den islamischen Trend auf der Straße für sich einzunehmen. So kam es für das Regime in Syrien sicherlich nicht ungelegen, einmal davon abzulenken, dass es im Mordfall des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafik al-Hariri von UN-Ermittlern der Mittäterschaft bezichtigt wird. Und die iranische Regierung hat nun neben dem Atomstreit eine weitere Front eröffnet, mit der sie meint, das Volk hinter sich zu bringen, während von der großspurig von Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad angekündigten Umverteilung von Reich auf Arm und den angeblichen Kampagnen gegen die Korruption nur noch wenig zu hören ist.

Und dann sind da noch die Islamisten außerhalb jedes formellen politischen Systems. Sie haben die Steilvorlage aus Dänemark mit Freuden angenommen. In Syrien hatten sie die Proteste informell mitorganisiert. Es war eine Möglichkeit für die dortigen Muslimbrüder im Schatten der Karikaturenaffäre ein wenig öffentlichen Raum zurückzugewinnen. Im Libanon hatten sie in der Hochburg der sunnitischen Radikalen, der Hafenstadt Tripolis, Busse gechartert, um ihre Anhänger zur dänischen diplomatischen Vertretung in Beirut zu bringen. Die Botschaft der Islamisten auch an den Westen ist deutlich: Wenn ihr einen Dialog wollt, dann führt ihn mit uns, denn nicht die Regime, sondern wir kontrollieren die Straße. Im Buhlen um die Gunst der Gläubigen schneiden die Islamisten allemal besser ab als die Regierungen. Sie können vom Gefühl der Menschen am besten profitieren, dass man ihnen nicht nur einen vernünftigen Lebensunterhalt und politische Freiheiten verwehrt, sondern nun auch noch das Letzte, was sie haben, angreift: den Glauben an Gott und seinen Propheten.

Es steht keine konkrete politische Forderung im Raum, deren Erfüllung den Karikaturenstreit schlichten könnte. Und genau das macht die Angelegenheit gefährlich. Der ägyptische Journalist Eissa sarkastisch: „Geben wir uns erst zufrieden, wenn die Dänen kollektiv zum Islam übergetreten sind?“