Die Reportage für unterwegs

JOURNALISMUS Die beiden Webseiten Liesmich.me und Reportagen.fm sollen dabei helfen, lesenswerte Texte im Internet zu finden – und folgen damit einem Trend aus den USA

VON JULIA AMBERGER

„Wir sehnen uns nach Entschleunigung“, sagt Laurence Thio. Thio, 26, studiert an der Journalistenschule des RBB. Zuvor hat er bei einem Nachrichtenportal gearbeitet, Fastfood nennt er das, was er dort produziert hat. „Die Nachrichtenlage ändert sich so schnell, dass ein Text in ein bis zwei Stunden von der Seite rutscht und nur noch schwer zu finden ist“, sagt er.

Mit Lukas Bischoffberger und Jenny Rotter, sie kennen sich von der Schülerzeitung, tauscht er schon lange diese zeitlosen Geschichten aus. Dann war da die Idee, sie mit anderen zu teilen, so wie es die Macher von Longreads und Longform machen, zwei Reportagen-Plattformen aus den USA. Mark Armstrong, ehemaliger Time-Inc.-Herausgeber, verbreitete lange Reportagen, Essays oder investigative Geschichten zunächst über Twitter, 2009 mündete seine Idee in der Webseite Longreads.com. Longform entstand ein Jahr später.

Im Sommer 2012 starteten Thio, Bischoffberger und Rotter Liesmich.me. Jeden Freitag verlinken sie dort Reportagen, die sie in der letzten Woche besonders gut fanden, darunter: „Schöne Vorstellung“, eine Reportage über den Trupp des Circus Bellucci, der von Italien nach Syrien und Ägypten reist, weil Menschen in Krieg und Leid lachen wollen. Moritz Baumstieger hat sie für das SZ Magazin geschrieben. Oder „Wie Christian Frommert gegen die Magersucht kämpft“, Katrin Schulze vom Tagesspiegel erzählt, wie der ehemalige Telekom-Sprecher daran arbeitet, sich selbst zu akzeptieren. Mindestens 6.000 Zeichen müssen die Reportagen haben, zeitlos sein, „der Rest ist Geschmackssache“, sagt Thio.

Liesmich.me profitiert von der Entwicklung von Leseapps. Denn dadurch hat sich das Lesen im Internet aufs Sofa verlagert, ins Bett oder ins Zugabteil. Kurz nach dem Start der Webseite ging bereits eine weitere nichtkommerzielle Reportagenplattform online, Reportagen.fm.

Gestartet hat sie der freie Journalist Martin Fischer. Er war zunächst im Liesmich-Team. Im Sommer letzten Jahres realisierte er dann seine eigenen Ideen mit zwei Tagesspiegel-Journalisten, Jonas Breng und Björn Stephan. Der Grund: Sie haben sich nicht mehr so gut verstanden, außerdem wollte Fischer mehr experimentieren, sagt er.

Die beiden Projekte unterscheiden sich zunächst kaum. Die Teaser von Liesmich.me sind ausgefeilter, die Artikel der letzten Woche sind leichter zu finden. Liesmich hat Archivcharakter: Die Reportagen der Woche sind über Schlagworte mit anderen Artikel zu ähnlichen Themen verlinkt. Und Texte zu den Themen Verbrechen, Undercover und Deutsche Einheit sind als Dossiers zu finden, ein weiteres Dossier zum Thema Reise ist gerade in Planung.

Die Webseite Reportagen.fm kommt deutlich schlichter daher, kooperiert jedoch mit dem Verein „Reporter-Forum“, einmal im Monat stellen prominente Mitglieder wie der Zeit-Journalist Henning Sußebach ihre Lieblingstexte auf der Webseite vor.

Neben diesen Extras sind nur drei Texte aus der letzten Woche zu lesen, mit einer Gesamtlesezeit von etwa einer Stunde – eine große Reportage zu einem aktuellen Thema auf der Eins, eine kürzere auf der Zwei und eine der Geschichten auf der Drei, „die wir uns zugeschoben haben, weil sie so großartig sind! Auch wenn sie nicht relevant sind und in kein Raster passen“, sagt Fischer.

Diese absurden Reportagen, so Fischer, brachten ihn auf die Idee, die beste mit dem Henry-Nonsense-Preis auszuzeichnen. Mit Preis wollen Fischer, Breng und Stephan schräge Geschichten würdigen, die wahnsinnig gut sind, aber trotzdem nie einen Preis gewinnen werden. Weil sie nicht vom Krieg, vom Hunger oder vom Sterben handeln. Aber, so Fischer, „so schön bekloppt vom Leben erzählen“.