Im gelobten Winterwunderland

EINWANDERUNG Juan Arata hätte nicht von Argentinien nach Deutschland kommen müssen. Dort hatte er Erfolg in der Werbebranche. Hier kocht er nun in einem Restaurant Semmelknödel. Und malt

Die Diskussion über Integration wird bestimmt von Geschichten über gescheiterte Migranten und deren Abkapselung in Parallelwelten. Weil Klischees aber selten stimmen, beleuchtet die taz gelungene Migrationsgeschichten. Bisher erschienen: „Adios Spontanität“ (7. 1. 10) über die Costa Ricanerin Lorelly Bustos Córdoba, die in Hamburg einen Kindergarten leitet, „Unauffällig an die Spitze“ (22. 1. 10) über Vietnamesen in Leipzig und „Allein in der Nähe der Macht“ (15. 2.) über Ali Aslan, der im Innenministerium arbeitet. Nächste Woche: Die in Syrien aufgewachsene Lina Ganama, die in Berlin arabische Frauen berät.

VON CHRISTOPH GURK

Der Grund, wieso Juan Arata nach Berlin gekommen ist, liegt versteckt zwischen klobigen Plattenbauten. Es ist ein hoher Raum in einer ehemaligen Schule, der Putz bröckelt von den Wänden, an der Decke brummt eine Neonröhre. Es ist kalt, die Heizung hat noch nie funktioniert, und jetzt, im Winter, zischt in der Ecke nur ein kleiner Gasofen. Kein schöner Ort, trotzdem ist er genau das, was Arata gesucht hat.

Vor knapp zwei Jahren zog der 34-Jährige um, von Argentinien, nach Berlin. Man muss das so sagen: Argentinien–Berlin, denn Arata wäre nicht nach Bielefeld gegangen oder nach Rostock. Er ist nach Berlin gekommen, nicht nach Deutschland, genau wie die vielen anderen jungen Kreativen aus der ganzen Welt, die nach Kreuzberg und Neukölln schwärmen, angezogen vom leuchtenden Berlin. Denn hier gibt es Kunst, Kultur, Bars, Clubs, Cafés und Konzerte. Vor allem aber hat Berlin etwas, was es in London, Paris und New York nicht gibt: billige Mieten.

Arata, dünn, dunkle Haare, hohe Wangen und kleiner Ziegenbart, versinkt fast in seiner Jacke. „Im Winter bin ich nur drei bis vier Stunden hier im Atelier“, sagt er, „länger hält man es wegen der Kälte gar nicht aus.“ Weiße Wölkchen kommen aus seinem Mund, mischen sich in der Luft mit dem Geruch von Ölfarben und Autolack. Mit ihnen malt Arata seine Bilder, helle Silhouetten, düstere Fratzen und Neongesichter mit fünf Mündern.

Zuerst skizziert er das, was ihm in den Sinn kommt, ein Glas, ein Arm, ein Auge, schnell, zehn Minuten, eine halbe Stunde, dann sind die Umrisse fertig. Tage, manchmal Wochen später malt er weiter an den Bildern, oft übermalt er sie aber auch einfach wieder. So bilden sich Schichten, die sich überdecken, mischen, ergänzen. Und wenn man so will, ist es in Aratas Leben ähnlich. Denn die Bilder, das Atelier, Berlin – sie sind eine Schicht, die mit seinem früheren Leben wenig zu tun hat.

Arata wächst auf in Buenos Aires, mit 20 studiert er Architektur. Dann findet er Arbeit bei einer Firma für Werbung und Industrie Design, bald ist er Art Director. „Damals hat mir das viel besser gefallen als mein Studium“, sagt er, also bricht er die Uni ab. Mit 24 gründet Arata eine Werbeagentur. Anfangs sind sie zu dritt, die Firma wächst, und als es fast 80 Mitarbeiter sind, gibt er die Firma auf und nimmt einen Job bei VegaOlmosPonce an, einer der besten Agenturen Argentiniens. Damals ist er 26, ein steiler Weg, Arata hat Erfolg.

Heute, acht Jahre später, steht er in einem alten T-Shirt in der Küche eines bayrischen Restaurants in Berlin Kreuzberg. Arata arbeitet hier, ein-, zweimal die Woche. Am Anfang kam ihm das komisch vor, ein Argentinier und bayrische Küche, dazu noch in Berlin, „aber deutsche Köche kochen ja auch französische Gerichte“, sagt Arata.

Als er anfing, war es schwierig, Arata konnte nur Englisch und verstand das Küchenkauderwelsch nicht. Heute redet er nur noch Deutsch auf der Arbeit, längst sind Semmelknödel Aratas Spezialität. Wenn Gäste aus Argentinien kommen, macht er sie sogar zu Hause. Arata ist angekommen, hat sich eingelebt, hat einen Job, das Geld reicht für die Miete, Essen und Krankenversicherung – aber eben auch nicht für sehr viel mehr.

Ein neues Land, ein neues Leben – das klingt nach Chancen, nach der Suche nach Glück, nach etwas, das man zu Hause nicht hat: Eine Arbeit, eine Ausbildung, Geld. All das hatte Arata aber schon in Argentinien. Ein Abstieg also? Weil er in Argentinien erfolgreicher war? „Kommt darauf an, wie man Erfolg definiert“, sagt Arata. Schließlich kam er nicht wegen dem Geld, dem Job, der Ausbildung. Er wollte vor allem mehr Zeit.

In Argentinien arbeitet Arata fünf Tage die Woche, um acht geht er aus dem Haus und kommt zwölf Stunden später wieder. Nebenbei macht er Malkurse und schreibt sich in einer Klasse von José Martínez Suárez ein, einem der berühmtesten Regisseure Argentiniens. Wann immer er frei hat, an den Wochenenden, am Abend, in der Mittagspause, malt er und macht Kurzfilme. Bald hat er Ausstellungen, verkauft Bilder, seine Filme laufen auf Festivals. Er würde mehr machen, wenn er könnte, wenn er weniger arbeiten müsste. Mit Eli, seiner Freundin, sprechen sie oft übers Reisen, übers Weggehen, an einen Ort, wo er fünf Tage malen kann und nur zwei arbeiten muss. Die Frage ist nur: Wohin?

Dann wird Arata auf ein Filmfestival in Potsdam eingeladen. Als er in Berlin ankommt, fühlt er sich wie in Buenos Aires: Eine Großstadt, dreckig, unordentlich, dafür lebendig und kreativ. Doch etwas ist anders. „Niemand hatte einen Anzug an“, erinnert sich Arata und grinst. „Dafür waren die Cafés voll, alle haben Kaffee und Bier getrunken. Und das um drei Uhr nachmittags.“ Arata fragt sich, wie das geht. An einem Dönerstand erkundigt er sich nach den Mietpreisen. Am selben Abend ruft er bei Eli in Buenos Aires an. „Berlin wird dir gefallen“, sagt er. Auf einmal ist das Ziel klar.

Heute, fast zwei Jahre später, kleben in seiner Wohnung überall bunte Post-it’s. Am Spiegel ist ein gelber, der Spiegel, maskulin. Rot ist feminin, grün ist Neutrum. So lernen er und Eli deutsche Artikel. Die Sprache war am Anfang ein großes Problem, wenn auch nur eines von vielen.

Erst mal brauchten sie ein Visum für Eli. Arata hat die italienische Staatsbürgerschaft, kann in der EU arbeiten, Eli dagegen rennt von Botschaft zu Botschaft, ohne Erfolg. Also heiraten die beiden, „das hätten wir früher oder später ohnehin gemacht“, sagt er. Als Arata beim Standesamt seinen Beruf angeben muss, schreibt er „Künstler“. Zum ersten Mal.

Aratas Eltern freuen sich für die beiden, auch wenn sein Vater nicht versteht, wieso Berlin, warum nicht London oder Paris. Arata sagt: „Berlin, das ist im Moment die Kulturhauptstadt der Welt.“ Hunderte Künstler kommen jeden Monat, die meisten sind jung, studieren nebenher oder werden von den Eltern unterstützt. Als Arata kommt, ist er über 30. In Argentinien war er nicht reich, trotzdem wusste er, dass er für Berlin seinen Lebensstandard herunterschrauben muss. „Mein Leben war gut in Buenos Aires“, sagt er. „Ich wollte mich langsam daran gewöhnen, weniger Geld zu haben.“ Also kündigt er seinen Job und arbeitet für kleinere Agenturen, verdient weniger Geld und spart einen Teil davon.

Als er und Eli in Berlin ankommen, haben sie 80 Kilo Gepäck dabei und ihre Katze Berta. Deutsch verstehen sie so gut wie kaum. Die ersten zwei, drei Monate ist alles noch spannend, erzählt Arata. „Irgendwann gewöhnt man sich aber daran. Das ist der Punkt, an dem man anfängt, an seine Familie und Freunde zu denken.“ Viel schlimmer als das Heimweh ist aber die Kälte. „Das war ein Schock“, sagt Arata. „Auf den Winter waren wir so nicht vorbereitet.“

Trotzdem: Erst durch ihn, glaubt Arata, hat er die Deutschen verstanden: Wieso das Essen so fett ist oder wieso die Leute weniger spontan und so schrecklich pünktlich sind. „Niemand hat Lust, in der Kälte zu warten“, sagt er. Deutschland, eine Winterkultur.

Arata lebt sich schnell ein, die Kunstszene ist international. Eli hat mehr Probleme, als Wirtschaftswissenschaftlerin tut sie sich schwer, einen Job zu finden. Trotzdem denken beide nie ans Zurückgehen.

Eli arbeitet mittlerweile als Stadtführerin, über deutsche Geschichte weiß sie mehr als viele Deutsche. Im letzten Jahr hatte Arata ein halbes Dutzend Ausstellungen, einen Monat war er zum Malen in England, eine Woche in Österreich. Man könnte sagen: Arata ist auf dem Weg nach oben, er hat Erfolg. „Kann sein“, sagt er. „Darüber mache ich mir aber keine Gedanken.“

Er steht in seinem Atelier, in der Hand einen dampfenden Plastikbecher mit Instantkaffee. An den Wänden stapeln sich die Bilder. Dass er in einem Restaurant Knödel knetet, statt in einer hippen Werbefirma zu arbeiten, dass es in seinem Atelier so kalt ist, dass er nach dem Malen halb erfroren nach Hause kommt, das ist egal. „Ein Künstler muss manchmal leiden“, sagt Arata. Aus seinem Mund kommen kleine, weiße Wölkchen.