LESERINNENBRIEFE
: Wählen, nicht wählen, wen wählen?

Noch dreizehn Wochen bis zur Bundestagswahl und taz-Leser diskutieren, wie wir uns dazu verhalten sollen. Steinbrück wählen wegen seiner Tränen? Laut proklamierter Wahlboykott als politischer Akt? Die linke Alternative suchen?

Wahlboykott!

■ betr.: „Welzer und die Köchinnen“, taz vom 12. 6. 13

Mathias Greffrath hat schon erhellendere Artikel geschrieben. Auch ich, Jahrgang 1948, bin ein alt gewordener, oft resignierter Linker. Ich habe seit 1969 keine Wahl ausgelassen. Diesmal werde ich es tun, fordere Millionen von anderen auf, es mir gleichzutun. Insofern gebe ich Harald Welzer recht. Mit einem radikalen, weitreichenden, unbeugsamen Wahlboykott schwäche ich nicht die Institutionen dieser auf den Hund gekommenen Demokratie, ich erhalte mir – indem ich das Schlussverkaufsangebot dieser kapitalistischen Einheitsfront zurückweise – meine Würde als radikaldemokratischer Linker. Was Greffrath uns einreden will, was Oskar Negt uns einreden wollte, als er uns vor über zehn Jahren empfahl, seinen Freund Gerhard Schröder noch einmal zum Kanzler zu wählen, ist das Gleiche, was man uns immer einreden wollte, auch weiland 1976 und 1980: die damalige SPD des Kanzlers Schmidt als das „kleinere Übel“ zu wählen. Man mutet uns allen Ernstes zu, einem rechtssozialdemokratischen Kanzler Steinbrück zur Kanzlerschaft oder sogar nur zur Vizekanzlerschaft unter einer nochmaligen Kanzlerin Merkel zu verhelfen. Uns hier mit mittelschichtigen Steckenpferdthemen wie Schwulenehe, Rauchverbot und Solarenergie zu kommen, um uns an unsere Bürgerpflicht zu erinnern, unsere vermeintliche Pflicht als bürgerliche Intellektuelle, schlägt dem rottenden Fass den Boden aus. HANS-JÜRGEN MICHEL, Schwerin

Sensibles Wesen

■ betr.: „Frau Steinbrück redet Klartext“, taz vom 17. 6. 13

Journalistisches Verständnis als Wahlkampfhilfe. Fast alle Zeitungen zeigen Empathie und Wohlwollen für diese „Gefühlsregung“. Der Politiker als Mensch, als sensibles Wesen im Raubtierkäfig. Oder doch nur eine neue und verzweifelte Art des Stimmenfangs? Auf jeden Fall eine perfekt inszenierte Soap Opera. Großes Parteikino. Der Missverstandene (Steinbrück) der Zeit und Engagement opfert, selbstlos. Ihm gegenüber der Stinkstiefel (Gabriel), der diese selbstvergessene Hingabe für Partei und Staat mutwillig sabotiert. Charakterzeichnung wie aus einem Groschenroman. Und dabei könnten doch der Peer und die Gertrud ihr großbürgerliches Vorruhestandstum in vollen Zügen genießen. Muss erst die Ehefrau den Delegierten und der Öffentlichkeit die Augen öffnen? Wieder zeigt sich, schwache Politiker haben immer eine starke Frau an ihrer Seite. UWE ROOS, Spiesen-Elversberg

Unsachliche Häme

■ betr.: „ „Frau Steinbrück redet Klartext“, taz vom 17. 6. 13

Jetzt platzt mir endgültig der Kragen! Es reicht mir, mit wie viel unsachlicher Häme auch Sie den Kanzlerkandidaten der SPD überschütten! Auch Sie haben von Anfang an kein gutes Haar an Herrn Steinbrück gelassen, wie die meisten anderen Printmedien. Dabei sind das, was Sie als „Fehler“ und „Pannen“ bezeichnen, absolute Kleinigkeiten im Vergleich zu dem Versagen der Kanzlerin. Oder glauben Sie wirklich, es wäre gute Politik, wenn sie sich wegduckt, nichts entscheidet, bis nach den Wahlen zu nichts mehr Stellung bezieht? Herr Reinecke, Frau Merkel ist weder „effektiv“ noch „nett“, aber mit „biegsam“ (in alle Richtungen!) haben Sie recht. Sie hat keine feste Meinung, aber man spürt menschliche Härte und Kaltblütigkeit! Natürlich ist Herr Steinbrück verletzbar, aber was „unterdrückte Tränen“ mit „maximalem Selbstmitleid“ zu tun haben sollen, ist mir unerfindlich. Vielleicht sind Sie ja aus irgendwelchen absurden Gründen der Meinung, Tränen wären immer nur ein Ausdruck von Selbstmitleid. Wie wollen Sie das überhaupt beurteilen können? Wäre es nicht eine gute Idee, wenn Sie bei der taz Ihre Haltung Herrn Steinbrück gegenüber ändern und positiver über ihn berichten würden? Jedenfalls hat Herr Steinbrück nichts getan, was ihn per se als möglichen Kanzler disqualifizieren würde, und nur darauf kommt es doch an. Gibt es in Deutschland inzwischen ein ungeschriebenes Gesetz, wonach alle Politiker, die Frau Merkel eventuell den Rang und die Kanzlerschaft streitig machen könnten, in Grund und Boden niedergeschrieben werden müssen? INGE-KARIN KRUSCH, Flensburg

Charaktertanz

■ betr.: „Die SPD macht gut Wetter“, taz vom 18. 6. 13

Spannend, wie Anja Maier und Stefan Reinecke die politische Streitkultur in der SPD schildern. Und es ist tatsächlich leider so, wie es auch Oberinspektor Chen Cao treffend beobachtet hat: Seit Gerhard Schröder gibt es für das SPD-Volk nur einen einzigen Tanz, der nicht im Entferntesten diesen Namen verdient: den loyalen Charaktertanz. Dabei stampfen die SPDlerInnen im Gleichklang auf den Boden, um dem Kanzler oder dem Kandidaten ihre Loyalität zu zeigen. Wahrscheinlich ist, dass das SPD-Volk wohl nie wieder ohne Angst vor der Obrigkeit tanzen wird. DIETER SCHÖNROCK, Hamburg

Klartext kredenzt

■ betr.: „Schluchzender Steinbrück“, taz vom 17. 6. 13

Dass ein Mensch auch Gefühle zeigt, spricht zunächst für ihn. Allerdings hat Peer Steinbrück mit Sicherheit noch nie weinen müssen, wenn er bei den vielen Vorträgen, die er einem erlauchten Publikum kredenzte, Applaus erhielt. Die Herrschaften zahlen dafür, dass er ihnen Klartext serviert, wie sie ihn gerne hätten. Geld, viel Geld für die Selbstbestätigung der herrschenden Klasse. HEINZ MUNDSCHAU, Aachen