Der verzweifelte Treck der Nomaden

Kenias Dürre treibt das Maasai-Hirtenvolk mit seinen Viehherden in die Hauptstadt Nairobi. In Kenia droht die schwerste Hungersnot seit langem. Die Nomaden stehen wegen ihrer großen Herden in der Kritik – aber eine Alternative haben sie nicht

AUS NAIROBI ILONA EVELEENS

Nairobi ist voll mit Tieren. Kühe, Ziegen und Schafe gibt es in Kenias Hauptstadt. Nach dem Gras fressen sie auf den Friedhöfen die Blumen. Golfplätze werden rund um die Uhr bewacht. Mehr als 600 Hirten ziehen mit ihrem Vieh in der Stadt herum.

In Ostafrika herrscht Dürre, und allein in Kenia brauchen 3,5 Millionen Menschen Nahrungsmittelhilfe. Diese Woche warnten Hilfswerke, es drohe in dem Land die größte humanitäre Katastrophe seit vierzig Jahren.

An einer Wiese in Nairobi hat Sammy ole Nkenayo einen Zaun kaputt gemacht, um seinen Kühen Zugang zu schaffen. Das Vieh frisst langsam am kargen gelben Gras. Das Grundstück gehört einem Spekulanten, der nichts damit macht. „Ich weiß, dass ich das Gesetz übertrete“, meint der 28-jährige Maasai-Hirte, „aber ich habe nur das Nötigste vom Zaun kaputt gemacht. Es ist eine Frage des Überlebens.“

Sammy ole Nkenayo zog in November nach Nairobi. Wie die meisten Hirten in der Hauptstadt kommt er aus dem Süden von Kenia, das im Volksmund Maasailand genannt wird. Seine Familie hat er zurückgelassen. Er zog weg, als 20 seiner 90 Kühe bereits gestorben warden. Für Maasai-Begriffe war Sammy ole Nkenayo reich, aber während des zwei Wochen dauernden Marsches nach Nairobi verlor er weitere 50 Tiere. „Wenn es nicht bald regnet, wird nur ein Dutzend übrig bleiben“, sagt er traurig. Die erste Regensaison wird Ende März erwartet.

Plötzlich springt Sammy ole Nkenayo auf und rennt auf eine abgemagerte Kuh zu, deren Hufe auf dem trockenen Gras knistern. Sie knabbert an einer gelben Plastiktüte. Als der Maasai endlich Kuh und Tüte geschieden hat, sagt er außer Atem: „Das Vieh hat so viel Hunger, dass es versucht, Gift zu fressen.“

Er selbst hat auch Hunger. Aber Regierung und Hilfsorganisationen verteilen nur Nahrung an Menschen, die als sesshaft registriert sind, und nicht an Hirten, die immer unterwegs sind. Es gibt Tage, da hat Sammy ole Nkenayo nichts im Magen außer ein paar Tassen Tee.

In Kenia stehen die Hirten jetzt in der Kritik. „Warum verkaufen die Maasai nicht ihr Vieh rechtzeitig und überleben mit dem Geld, das sie dafür erhalten?“, hört man in Nairobi. „Wir lieben unser Vieh, es ist Teil unseres Leben“, erklärt ole Nkenayo. „Es ist unser Bankkonto, weil es bei uns keine Banken gibt.“

Der Schriftsteller Koert Lindijer, Autor zweier Bücher über afrikanische Nomaden, hält die Kritik ebenfalls für unberechtigt. „Niemand hilft den Hirtenvölkern, ihre Viehwirtschaft an die Gegenwart anzupassen“, sagt der Niederländer, der seit 20 Jahren in Afrika lebt. Hirtenvölker haben ihre Art der Viehzucht wenig geändert. Aber die Welt um sie herum hat sich stark geändert. Es gibt weniger Weideland, dafür mehr Dürren. „Hirtenvölker wissen, dass sie sich anpassen müssen“, so Lindijer. „Aber wie? Die Regierung bietet keine Aufklärung an. Und wo sind die Banken oder Postämter in der Savanne, wo Nomaden Geld anlegen können? Wo sind die Schlachthäuser und Kühlhäuser, wo Rindfleisch verwertet werden könnte?“

Verantwortlich für Nothilfe in Kenias Regierung ist Minister John Munyes. Er gehört zum Turkana-Volk, einem Hirtenvolk aus dem Nordwesten Kenias. Er weiß, wie groß das Elend ist. „Es wird höchste Zeit, einen Plan für Nomaden aufzustellen“, sagt er. „Wir müssen dafür sorgen, dass sie bei der nächsten Dürre ohne unsere Hilfe überleben können.“

Sammy Ole Nkenayo kennt eine einfache Lösung. „Nur zwei Tage Regen, und wir sind gerettet“, sagt der Nomade in Nairobi. Aber seit zwei Monaten ist der Himmel über Nairobi blau und wolkenlos. Und wenn sich einige Wolken zeigen, geben sie keinen Tropfen preis. Voriges Jahr hat sich Sammy ole Nkenayo überlegt, ein paar Stück Vieh zu verkaufen. „Aber dann hat es in Oktober geregnet, und ich bekam wieder Hoffnung.“

Nairobis Einwohner haben Mitleid mit den Nomaden. Wenn die Tiere die Straße überqueren, warten sie geduldig. Aber die Rinder sind den starken Autoverkehr in der Metropole nicht gewohnt. Eine Menge Kühe wurden schon auf der Straße getötet. Auch verursachen sie Unfälle. „Tiere sind in der Stadt nicht erlaubt“, erklärt ein Polizist. „Aber sollen wir sie verhaften? Was machen wir dann damit?“