„Das ist erst der Anfang“

BRASILIEN 1,2 Millionen Menschen demonstrieren im ganzen Land. Je mehr Menschen dabei sind, desto diffuser wird der Protest

AUS RIO DE JANEIRO UND SAO PÃULO ANDREAS BEHN
UND SEBASTIAN ERB

Für Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff wird die Lage brenzlig. Die schon länger als eine Woche andauernde Protestwelle ebbt nicht ab, im Gegenteil. Am Donnerstagabend gingen in mehr als hundert Städten insgesamt 1,2 Millionen Menschen auf die Straße. In Rio de Janeiro waren es 300.000. Die Protestmärsche verliefen lange friedlich, erst gegen Ende oder beim Eingreifen der Polizei kam es zu teils heftigen Ausschreitungen. Hunderte Menschen wurden verletzt, viele festgenommen. Ein Mann starb, als ein Fahrer sein Auto in eine Demonstration lenkte.

In der Hauptstadt Brasilia verhinderten massive Polizeikräfte einen Sturm auf das Außenministerium. In vielen Städten wurden Autos angezündet und Fensterscheiben eingeschmissen. Die Polizei ging mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die Demonstranten vor.

Die Präsidentin von der seit zehn Jahren regierenden linken Arbeiterpartei PT aüßerte sich nicht zu den Massenprotesten. Allerdings sagte Rousseff eine Reise nach Japan ab und richtete einen Krisenstab ein. Seit Monaten steht sie unter Druck von rechts, sowohl aus der Opposition wie aus der eigenen Koalition. Nun muss sie auch nach links schauen. Die Kritik der Demonstranten erinnert an die Rhetorik der PT in der Zeit, als die noch nicht an der Regierung war.

In Sao Pãulo, der größten Stadt des Landes, hatte die Demo fast schon Volksfestcharakter. Es gab ja auch etwas zu feiern. Die Preiserhöhung der U-Bahn-Tickets um 20 Centavos (7 Cent), die hier ursprünglich Anlass für die Proteste war, wurde zurückgenommen. Aber es geht längst nicht mehr nur um den Nahverkehr. Zwar haben die Demonstranten bislang keine gemeinsamen Ziele formuliert. Viel Kritik kreist aber um unzureichende öffentliche Dienstleistungen und korrupte Politiker. Hinzu kommt der Unmut über milliardenschwere Ausgaben für die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016.

Auf der Straße wünscht sich dann jeder was anderes. „Bessere Bildung und ein funktionierendes Gesundheitssystem“, fordert eine 19-Jährige. Ein Mann fordert mehr Rechte für Homosexuelle, ein anderer hat „Steuern sind Diebstahl“ auf eine Pappe geschrieben, zwei Männer halten ein Schild in die Luft: „Verkaufe mein Motorrad“.

Auf der achtspurigen Avenida Paulista im Zentrum der Megastadt protestieren viele Studenten, aber auch Senioren und Familien mit Kindern sind da. Bislang Unpolitische laufen neben jungen Antifas, die gegen Nationalismus anschreien, andere schwenken die Nationalflagge.

Viele hat erst das rigide Vorgehen der Polizei an den Vortagen zum Demonstrieren gebracht. „Ich habe die Gewalt gesehen, da konnte ich nicht zu Hause bleiben“, sagt etwa Sergio Tercaçarolli. Früher, erzählt der 22-jährige Student, habe er nur träge auf der Couch herumgelegen. Jetzt hält er mit Freunden ein Transparent in die Höhe. „Wir wollen Krankenhäuser nach Fifa-Standard“, steht darauf. Es sei doch gut, dass es nicht mehr ein einziges Ziel gebe, sondern viele, schwärmt der Student. Endlich meckerten die Leute nicht nur zu Hause. „Wir haben jetzt viel Macht, die Dinge zu ändern.“ „#vemprarua“ („Kommt auf die Straße“), das Motto der Bewegung, die sich lose in den sozialen Netzwerken im Internet organisiert, ist auch Tercaçarollis Motto geworden.

An dem jungen Mann demonstrieren Zehntausende vorbei. „Wenn ihr auf unserer Seite seid, gebt ein Zeichen“, rufen sie den Leuten zu, die hinter den Fenstern der Hochhäuser stehen, die die Straße säumen. Blinkt ein Licht auf, johlt die Menge.

„Das ist erst der Anfang“, singen die Leute. Aber der Anfang wovon? Das weiß momentan niemand.