Das Vorspiel in Linz

August Sanders Porträtwerk „Menschen des 20. Jahrhunderts“ gab es in Köln und New York zu sehen. Jetzt werden die frühen Linzer Jahre gezeigt

AUS KÖLNKATJA BEHRENS

Lesende Frauen, fröhliche Kinder, ein Fabrikant en face, der Landarzt im Profil, idyllische Landschaften und Stadtansichten in Gelatinesilberabzug, auf Salzpapier oder im Gummidruck. Einige wenige Gemälde und Fotoübermalungen. August Sanders Frühzeit in Linz (1902-1909) wird in der Ausstellung der Kölner SK Stiftung Kultur in den historischen Kontext des großen Porträtzyklus „Menschen des 20. Jahrhunderts“ eingebettet. Der macht aus den relativ unspektakulären frühen Fotografien informative Dokumente zur Fotogeschichte des 20. Jahrhunderts.

Die SK Stiftung besitzt heute das weltweit größte Konvolut an Vintage-Prints (rund 5.000), Glasnegativen (11.000) und neueren Abzügen des Fotografen. Der gebürtige Westerwälder (1876-1964) war als Vertreter der neusachlichen Kamerakunst nicht nur an der Kölner Werkbundausstellung 1914 beteiligt, sondern auch Mitglied des Deutschen Werkbundes und der Künstlergruppe der „Kölner Progressiven“. Sander hat mit Familie seit 1910 in Köln gelebt, hat hier ein angesehenes Atelier geführt und neben den vielen Auftragsarbeiten sein Lebenswerk vorangetrieben. Seitdem reiften Idee und Konzept der immensen Bild-Enzyklopädie: unzählige Menschen werden porträtiert und typologisiert, in Gruppen zusammen gefasst und kategorisiert. Der Künstler versucht, „durch die Fotografie in absoluter Naturtreue ein Bild unserer Zeit zu geben“. Dass dabei kein repräsentativer Querschnitt der gesamten Bevölkerung entstand, ist häufig schon kritisiert worden. Ebenso wie die Tatsache, dass er einem eher alten berufsständischen Modell als einem an moderner Sozialwissenschaft orientierten Konzept folgte. Susan Sontag etwa kritisiert auch den Anspruch auf „pseudowissenschaftliche“ Neutralität seiner „bürokratischen Katalogisierung“. Außerdem war die Idee eines Porträtzyklus früher schon auf das Medium Fotografie übertragen worden. Dennoch hat August Sander mit seinem ambitionierten Projekt einen zentralen Beitrag zur Entwicklung der Kunstfotografie geleistet. Einzelne Motive und Bildtypen seines letztlich unvollendet gebliebenen Werks nämlich, das wird nun in der Kölner Ausstellung zu seiner Linzer Zeit deutlich, tauchen schon in seinen frühen Jahren auf, werden wiederholt, variiert und später ausformuliert. Obschon Sander das professionelle Ausklammern jeder Sentimentalität nicht immer ganz gelingt, die Veredelung der Fotografie ins Malerische mitunter immer noch virulent scheint, lässt sich doch schon der Wille zu Versachlichung feststellen.

Am bestechendsten und auf sein großes Kompendium vorausweisend ist vielleicht das 1930 wieder aufgegriffene Bildnis des Linzer Apothekers Sepp Melichar (1904-09), das als ein Prototyp seiner Berufstypologie angesehen werden kann. Viele seiner schönen Frauenporträts hingegen folgen einem eher altmodischen, auf die Genremalerei des 17. Jahrhunderts zurückweisenden Bildtypus. Eine Ausnahme ist vielleicht die alte strickende Bürgersfrau (1906-09), die auf einer Karte für seine „Photogr. Kunst Anstalt“ in Linz wirbt.

Auch wenn Sander weniger ein sozialkritisches Anliegen hatte als vielmehr eine moderne, eben neusachliche Bildsprache suchte, hatte er doch den Anspruch, eine annähernd umfassende und möglichst schnörkellose Dokumentation und Katalogisierung der Welt zu schaffen. Eine Inventur der Menschheit. Dass sich diese Welt indes „seit den Anfängen seines Vorhabens verändert hatte, dürfte Sander kaum entgangen sein.“ 1951 und noch einmal 1963 ist Sander auf der photokina vertreten, besucht Edward Steichen in New York, und nimmt 1955 an dessen legendärer Wanderausstellung „Family of Man“ teil. Die frühen Arbeiten, die jetzt in Köln gezeigt werden, sind wohl vor allem deshalb interessant, weil wir sie im Horizont des späteren Hauptwerks sehen. Als Vorläufer und Vorspiel, als historisches Präludium seines Oeuvres markieren sie eine wichtige Etappe der zunehmenden Professionalisierung und Neutralisierung der Fotografie. Ein Blick, der seit den 1980er und 1990er Jahren viele Fotografen der Nach-Becher-Generation zu gigantischen Edelabzügen einer sachlich beschriebenen Welt und ihrer Bewohner inspirierte.

SK Stiftung Kultur, Köln Bis 7. Mai 2006Infos: 0221-2262433