Ein Zipfel des Zukünftigen

Ein sensationell unsensationeller Film im Wettbewerb: „Sehnsucht“ von Valeska Grisebach löst ein, was er verspricht

Die Kulturverwalter jammern sich eins ab, dass die Utopien abhanden gekommen sind. Ihr Problem!, denkt man, wenn man „Sehnsucht“ gesehen hat. Denn natürlich sehnen sich die Leute im brandenburgischen Dorf wie wir alle nach etwas, das noch nicht da ist, aber in der ominösen Zukunft verharrt. „Ich stelle mir Dinge vor, die wir sonst nicht tun: dass wir uns ansehen, wenn wir Sex haben – dass wir miteinander reden; schlaf mit mir!“ Das sagt die glückliche Ehefrau Ella zu einem, der sich nicht artikulieren kann, aber gleichwohl Wünsche hat, diffuser Art. „Ich muss mal allein sein, weg von hier.“

Das sind einige der sehr wenigen expliziten Sätze in Valeska Grisebachs sensationell unsensationellem Film. Die Schlosserwerkstatt Briesen 59 in Zühlen, die glückliche Frau, die noch glücklicher werden will, der liebe Nachbarsjunge, das mümmelnde Kaninchen, die werten Kameraden von der Freiwilligen Feuerwehr. Die Kleinen Feiglinge werden aufgeschraubt, zwischen die Lippen geklemmt, Pfoten weg und gluckgluck. Ah ja, und dort die tolle Kellnerin.

Wir haben eine klassische Dreiecksgeschichte, aber kein Dreiecks-Filmplot. Denn, ich vergaß es zu sagen, „Sehnsucht“ ist ein Dokumentarfilm. Gedreht mit sorgfältig gecasteten Brandenburgern am brandenburgischen Motiv. Na ja, dramaturgische Vorgaben gibt es, auch einige Dialoge, die aufgesetzt sind: Spielfilmzitate in Laienmund. Das aber nimmt uns umso mehr für die beiden Darstellerinnen ein. Sie sind stärker als das Drehbuch. Über die dramaturgische Konstruktion spielen sie glatt weg.

Ich wollte das Wort nicht mehr gebrauchen, aber jetzt muss es sein: Die Dorf-„Authentizität“ überspielt den Filmplot mit links. Ihn in dürren Rezensentenworten wiederzugeben, darauf kann ich mit Freuden verzichten. Regisseurin Valeska Grisebach hat grandiose Vorarbeit geleistet: die Wahl der Darsteller, des Ortes, des Motivs. Und dann das Größte: Sie nimmt sich zurück. Sie lässt das, was vor der Kamera passiert, gewähren. Kurz gesagt: Sie sieht zu, sie hört zu – und wir mit ihr.

Endlich erfahren wir Neues im neuen deutschsprachigen Film. Neu ist das Alltäglichste, das um uns herum abläuft. An der Seh- und Hörroutine scheitert mit diesem großartigen Ausnahmefilm ausnahmsweise einmal nicht unsere Aufmerksamkeit. Dieser unsägliche Schlager „Ich möchte ein Eisbär sein“ ist nicht mehr zum Weghören, sondern etwas zum Ergriffenwerden. Da meint es jemand ernst mit dem „Eisbären müssen nie weinen“, und dass das zum Lachen ist, sehen wir selbst.

Rose, die Kellnerin im Nachbarort, hat den seelenvollen Blick einer jungen Angela Winkler, aber sie ist es nicht. Wir sind es, die vergleichen, was aber unzulässig ist. Denn es geht nicht um Leistung und Filmkonsum.

Feldforschung ist ebenfalls ein allzu ernüchternder Begriff, wenn es um einen liebevollen Blick auf Männer und Frauen am Sitz der Freiwilligen Feuerwehr Zühlen geht. Valeska Grisebach hatte vorher schon mit „Mein Stern“ glänzend recherchiert, was Menschen an der Schwelle zum Erwachsenwerden von ihrem Leben erwarten. Mit „Sehnsucht“ setzt sie fort, wie jetzt Dreißigjährige ihre Zukunft sehen.

Mit diesen Filmen dürfen wir von einer neuen Schule der Film-Erwartung sprechen, vor wenigen Jahren von der Österreicherin Jessica Hausner begründet. Da ich grade bei pathetischen Deklarationen bin, noch eins draufgesetzt: Unser Feuerwehrmann, der zwischen zwei Frauen, ist es selbst, der in Person die Unbestimmtheit der großen Erwartung verkörpert. Worte hat er nicht. Lang sind die Einstellungen, ungewohnt lang. Die Latenz bringt etwas zum Vorschein. Der Ausweg in der Sackgasse, die Selbstinszenierung in der Handlungsblockade, das Künftige in der Gegenwart. Na ja, den guten alten Ernst Bloch („Das Heidnische im Christentum“) darf ich nicht zitieren; so was von out. Aber die Aufforderung, mal zu gucken, wo man einen Zipfel eines ungewissen Zukünftigen ergreifen kann, – das ist doch ein prima aufbauender Gedanke. In „Sehnsucht“ können die Frauen damit operieren. Der Mann muss noch lernen.

DIETRICH KUHLBRODT

„Sehnsucht“, R.: Valeska Grisebach, Deutschland, 90 Min. 16. 2., 9.30 Uhr + 21 Uhr Urania; 19. 2., 20 Uhr, International