al forno
: Go, grandma, go!

FRANK KETTERER über so genannte Exoten, die dafür sorgen, dass Olympia sich weltoffen fühlen darf

Phillip Kimely Boit wird auch an diesem Freitag wieder sein Bestes geben, und wer das belächelt, der fügt dem 34-jährigen Mann aus dem Hochland Kenias Unrecht zu. Boit ist der beste Skilangläufer seines Landes, und dafür, dass es in seinem Land zwar viele Läufer, außer ihm aber kaum Skilangläufer gibt, kann er nun wirklich nichts. Wie sollte es auch, es gibt ja noch nicht einmal Schnee in Kenia. Dem Familienvater ist das egal, er will trotzdem ein Skilangläufer sein.

Boit ist das, was man bei Olympischen Spielen einen Exoten nennt, auch in Turin gibt es welche davon. Meist werden diese Menschen ja sanft bis mitleidig belächelt, selten werden sie als richtige Sportler gesehen. Eher hat es etwas mit dulden zu tun. Ja, das trifft es ziemlich gut: Exoten werden bestenfalls als schmückendes Beiwerk geduldet, Olympia ist schließlich eine weltoffene Veranstaltung.

Fair ist das nicht, sportlich schon gar nicht, denn so exotisch die Exoten auch anmuten mögen: Die meisten von ihnen sind echte Olympiastarter, nur dass sie eben unter schlechteren Bedingungen leiden als die meisten anderen. Mit weniger Hingabe und Entbehrung üben sie ihren Sport deshalb noch lange nicht aus. Und manchmal verbergen sich hinter diesen so genannten Kleinen Geschichten, die es wert sind, erzählt zu werden.

Die Geschichte von Anne Abernathy zum Beispiel geht so, dass die Rodlerin, 52 Jahre alt und von den Jungferninseln stammend, hier in Turin bei ihren sechsten Olympischen Winterspielen dabei ist. „Grandma Luge“, also Großmutter Schlitten, wird sie genannt, aber auch eine Großmutter war ja mal ein junges Ding. Ein Jahr bevor das junge Ding damals zu seinen ersten Winterspielen fahren wollte, wurde Krebs bei der damals 33-Jährigen diagnostiziert. Es war ein Schock, aber Anne ließ sich nicht aus der Bahn werfen, sie ist nicht nur im Eiskanal eine Kämpfernatur. Sie besiegte den Krebs – und startete ein Jahr später in Calgary. Und in Albertville. Und in Lillehammer. Und in Nagano. Dann, es war 2001, fiel sie so heftig vom Schlitten, dass in ihrem Gedächtnis drei Jahre verschüttet wurden, die sie bis heute nicht so richtig wiedergefunden hat. Im Jahr darauf in Salt Lake City saß sie dennoch wieder auf ihrem Schlitten. „Das Wort aufgeben kam mir niemals in den Sinn“, sagt Grandma Luge. Sie kam noch nie über Rang 20 hinaus, aber was heißt das schon bei einer Athletin, die auf den ausrangierten Schlitten von anderen rodelt und sich keinen eigenen Trainer leisten kann?

Es heißt auf keinen Fall, dass sie nicht eine echte Olympionikin ist – und dass sie hier in Turin am Ende doch nicht mitmachen konnte, weil sie sich im Training das Handgelenk brach, hat man nicht nur für Anne Abernathy als tragisch empfunden, sondern ein bisschen auch für sich selbst. Man wäre nur all zu gerne dabei gewesen bei der letzten Olympiafahrt von Grandma Luge.

Nun wird man sich am heutigen Freitag eben mit Phillip Kimely Boit trösten, auch für den Kenianer sind es bereits die dritten Spiele. Zwei Jahre vor seiner ersten Teilnahme, 1998 in Nagano, wusste der 34-Jährige noch nicht einmal, was Schnee ist, zum Skilanglauf ist der Bruder von Mike Boit, dem 800-m-Olympiasieger von München, schließlich eher zufällig gekommen – und weil ein Sponsor die Idee dazu hatte. „Davor hatte ich keine Ahnung, was Skilanglauf ist, aber es war Sport – und das hat mir gereicht“, sagt Boit. Dass er am Anfang ständig umgekippt ist, hat er fast schon vergessen. Gut erinnern kann sich Boit hingegen an die Zieleinkunft in Nagano. Zum einen war er stolz darauf, es überhaupt bis zum Ende geschafft zu haben, auch wenn er natürlich Letzter wurde mit 20 Minuten Rückstand. Zum anderen wartete im Ziel just dort der große Björn Daehlie und nahm ihn in Empfang. Die beiden, der große norwegische und der große kenianische Skilangläufer, sind Freunde geworden, seinen Erstgeborenen hat Phillip deshalb Daehlie Boit genannt.

Wunderdinge im heutigen 15-km-Rennen darf man von Phillip Kimely Boit dennoch nicht erwarten. Erst seit einem Jahr steht er wieder auf Skiern, für die drei Jahre nach Salt Lake City hatte das kenianische NOK kein Geld, um ihm bei seiner sportlichen Entwicklung behilflich sein zu können. Egal, sagt Phillip Boit, besser als beim letzten Mal will er trotzdem und auf jeden Fall sein, schließlich ist ihm das schon einmal gelungen. In Nagano war der Mann aus Kenia Letzter, in Salt Lake City ließ er schon fünf Konkurrenten hinter sich. Und heute wird man an der Strecke stehen und ihm auf jeden Fall ein „Bravo, Phillip!“ zurufen.