Getanzte Lebenswelten

Im achten Jahr bringt das Projekt Theater und Schule (Tusch) Berliner SchülerInnen auf die Bühne. Dieses Mal haben sie sich unter Anleitung professioneller Choreografen am Tanztheater versucht

von MARTIN REISCHKE

Auf der Bühne ist der Übergang von der faschistischen Diktatur zur profitorientierten Individualgesellschaft ganz einfach: Die als kollektive Markierung dienenden weißen Armbinden werden abgestreift und kurzerhand zu stilisierten Handys umfunktioniert. Unablässig sprechen die jungen Schauspieler in ihre Mobiltelefone, den Blick geschäftig ins Ungefähre gerichtet. Aber das hier ist keine Plauderstunde, sondern ein knallhartes Seminar zur Selbstvermarktung. Und so ruft der Gruppenleiter im barschen Ton: „Holen Sie alles aus sich heraus – und verkaufen Sie Ihre Idee überzeugend!“

Vordergründig richtet sich diese Forderung natürlich an die Möchtegern-Manager auf der Bühne. Es könnte genauso gut der Leitspruch für die 30 jungen Schauspieler an diesem Abend im Hebbel am Ufer (HAU) sein. Die vorbehaltlose Freude und Offenheit, mit der sich die Jugendlichen – manche von ihnen zum ersten Mal – auf der Bühne bewegen, ist beeindruckend.

„Move On!“ – so heißt die Tanztheaterproduktion – ist der Auftakt zum mittlerweile achten „Tusch“-Jahr. Die Abkürzung steht für „Theater und Schule“, einer Kooperation zwischen 22 Berliner Bühnen und 33 Schulen, die vom Senat, der PwC-Stiftung und dem Deutschen Bühnenverein gefördert wird.

Seit 1998 bekommen Jugendliche hier einen praktischen Einblick in die Theaterarbeit. Höhepunkt des Tusch-Jahrs ist die Festwoche im März. Dann werden sämtliche Produktionen gezeigt, die an den beteiligten Bühnen gemeinsam mit den SchülerInnen in der laufenden Spielzeit entstanden sind.

Zum Auftakt des Tusch-Jahrs 2006 haben Schüler aus ganz Berlin in ihren Winterferien vier Kurzinszenierungen einstudiert, die sich nun zum Tanztheaterstück „Move On!“ zusammenfügen. Unterstützt wurden sie dabei von erfahrenen Choreografen und Regisseuren vom Hebbel am Ufer, der Oper Neukölln, den Sophiensælen sowie dem Tanzstudio Dock 11 in Prenzlauer Berg.

„Für die Schüler war es etwas ganz Neues, in so kurzer Zeit zu produzieren“, sagt Tusch-Produktionsleiterin Ursula Jenni. Auch mit Tanztheater hatten die meisten Beteiligten noch keine Erfahrung. „Natürlich war das etwas Besonderes, denn die Basis ist nicht der Text, sondern die Improvisation“, sagt Jenni.

Umso wichtiger ist es deshalb, dass sich die Schüler mit Themen beschäftigen, die ihrer eigenen Lebensrealität entsprechen: Selbst- und Fremdbilder, Gesellschaft und Autorität und der allgegenwärtige Schönheitswahn werden auf der Bühne verhandelt. Eines der dargestellten Themen war den Schülern anscheinend sogar näher, als ihnen lieb sein konnte. „Viele von uns hatten ein Problem mit der Autorität des Choreografen“, sagt die 16-jährige Vivien LaFleur. Einige stiegen deshalb noch vor der Premiere aus. Die anderen aber haben Blut geleckt: Sie wollen auch nach Tusch weiter tanzen.

Weitere Vorstellungen: Heute um 19.30 Uhr im Dock 11, Kastanienallee 79 und am 26. 3. um 18 Uhr im Jugendkulturzentrum Pumpe, Lützowstr. 42.www.tusch-berlin.de