Kolonie bröckelnder Ziegelwände

BERLINFILM Günter Jordans Dokumentarfilm „Berlin – Auguststraße“ zeigt eine gänzlich andere Welt als die sterile Nobelmeile für die besser informierten Touristen: einen Abenteuerort für Kinder

Spielräume zwischen Gesellschaft, Staat, Privaträumen werden in der Schule verhandelt

VON BERT REBHANDL

Es war ein ziemlicher Coup des „location scouting“, als bei der 4. Berlin Biennale im Jahr 2006 die ehemalige jüdische Mädchenschule in der Auguststraße zum Ausstellungsort erklärt wurde. Eine unsanierte Immobilie, in der die Spuren der Geschichte des 20. Jahrhunderts an jeder Ecke noch sichtbar zu sein schienen, ein Denkmal auf das vernichtete jüdische Berlin und zugleich eine DDR-Ruine. Die ganze Auguststraße war damals Kunstort, man konnte in Wohnungen gehen, die aussahen, als wäre die Zeit in ihnen stehen geblieben. Vermutlich gibt es nicht viele Adressen, an denen das „neue“ und das „alte“ Berlin so markant aufeinandertreffen wie die Straße, in der vor allem die KunstWerke den Boom einer bestimmten Stadtidee auslösten: das Zwischennutzungs-Berlin der 90er und nuller Jahre. Inzwischen wurde dieses Modell längst in zahllosen Bietergefechten ad absurdum geführt, und die Auguststraße ist zur weitgehend sterilen Nobelmeile für die besser informierten Touristen geworden.

Man kann gar nicht anders, als das alles mitzudenken, wenn man die kostbare Gelegenheit bekommt, Günter Jordans Dokumentarfilm „Berlin – Auguststraße“ zu sehen. Er zeigt eine gänzlich andere Welt, und doch sind viele Ecken deutlich wiederzuerkennen. Im Jahr 1979 galt die Auguststraße als „alt“, die Spandauer Vorstadt lag im Schatten der Plattenbauten rund um den Alexanderplatz, eine Kolonie der bröckelnden Ziegelwände, der deutlich anzusehen ist, dass die DDR ihren Modernisierungsrückstand niemals aufzuholen in der Lage gewesen wäre. In dieser Wohngegend beobachtete Jordan damals einen Sommer lang das Geschehen, wobei er sich vor allem auf Kinder konzentrierte.

Zum Beispiel Petra, die als „sehr selbstständig“ bezeichnet wird. Was bleibt ihr auch anderes übrig, wo doch die Mutter im Schichtbetrieb arbeitet, und irgendjemand also den Einkauf und die Wäsche machen muss? Petra zählt genau auf, was sie zum Geburtstag bekommen hat, räumt aber auch ein, dass einige Geschenke sich verspäten werden – das Geld der Mutter hat nicht mehr gereicht, sie muss auf das nächste Gehalt warten.

Wie die Zeiten in dieser Auguststraße aufeinandertreffen, ist an einer Szene zu sehen, in der die Kinder einen Pferdewagen aus einem Hof herausholen, der mit Gemüsekisten beladen ist. Pferde sind keine mehr da, also packen sie selbst an, um ihn in Bewegung zu setzen. An einer anderen Stelle sehen wir die Mädchen, wie sie sich von einem Balkon aus mit einem kleineren Jungen unterhalten; sie sind sich dabei deutlich bewusst, dass sie ein Blickfang sind (nicht nur für die Kamera), und tatsächlich gelingt es Jordan auch, einen der vorbeikommenden Jungs dabei zu fotografieren, wie er sich umwendet, um noch einmal schnell zu dem Mädchen hinaufzuschauen.

In den Gesprächen, die Jordan geführt hat, wird ein Freiheitsbedürfnis deutlich, das (noch) nichts weiß von dem, was 1989 auf dem Spiel stehen würde. Die Kinder begreifen vor allem die unmittelbare Umgebung der Auguststraße als einen Abenteuerort, als einen Freiheitsraum, in dem sie sich den Erwachsenen gern entziehen würden. „Nicht ausgemeckert werden“, das ist der vordringliche Wunsch, den jemand äußert. Die Spielräume zwischen Gesellschaft, Staat, Privaträumen werden vor allen in der Schule verhandelt, mit der Jordan sich eingehend beschäftigte. Er zeigt, wie der Lehrer, ein junger, untersetzter, vollbärtiger Mann, der gut auch als Spät-Achtundsechziger durchgehen würde, sich mit den Kindern auseinandersetzt, wie er ihnen auf eine ernsthafte Weise immer wieder abverlangt, über sich und ihre Situation (und ihre Beziehungen untereinander) zu sprechen, wie er sie aber auch Rock ’n’ Roll tanzen lässt, gelungenen „Würfen“ applaudiert, und wie das alles auf ein großes Fest hinauslaufen soll. „Berlin – Auguststraße“ belegt auf einer Mikroebene sehr anschaulich das, was Karl Schlögel in einem Buch in größeren Zusammenhängen belegt hat: Im Raum lesen wir die Zeit.

■ „Berlin – Auguststraße“: Brotfabrikkino, 4.– 10. 7. um 19 Uhr