Zombies im Dauerkrieg

Ein düsteres Bild von der modernen Gesellschaft entwirft Martin Kušej in seiner Inszenierung von Ödön von Horváths Drama „Zur schönen Aussicht“ am Schauspielhaus: Was allein zählt, ist Geld

Menschen mit nachvollziehbaren Gedanken, Gefühlen und Handlungen gibt es hier nicht

von KARIN LIEBE

Ein Soldat auf Krücken steckt sich eine Pistole in den Mund. Licht aus, Pistolenknall, Vorhang, harte Beats. Das Ende? Nein, der Anfang. Ein Anfang mit Karacho, dem drei Stunden Lethargie folgen werden, durchsetzt von harten Ausbrüchen verbaler Gewalt. Als das Licht wieder angeht, versucht ein Mann im Hausmeisterkittel den Blutfleck an der Wand wegzuwischen. Es geht nicht, trotz halbherzigem Einsatz von Spucke. Da hängt der Mann (mit zarter Komik: Bernd Moss) eine Landkarte darüber. Es ist eine Karte Europas, und sie hängt schief. Aber der Fleck ist weg.

Eine ziemlich klare Message, die Regisseur Martin Kušej gleich zu Beginn seiner Inszenierung von Ödön von Horváths frühem Drama Zur schönen Aussicht so plakativ wie pointiert vermitteln will: Die Landesgrenzen Europas begründen sich auf Blut, auf Krieg und Tod. Kriege hat es hier immer gegeben, ob zu Lebzeiten von Horváths, der sein Stück 1926, zwischen den „großen Kriegen“ schrieb, oder vor ein paar Jahren auf dem Balkan. Das sollte zwar jedes Schulkind wissen, aber kein Geschichtsunterricht kann diese Wahrheit in ein einziges Bild gießen – das kann nur die Kunst.

Die Kunst der Reduktion kann aber auch im Leeren versanden. Starke Bilder für das kaputte Hotel Europa, seine verkorksten Bewohner vor und nach den Kriegen, findet Martin Kušej immer wieder. Über drei Stunden Dauer jedoch ertrinken sie zunehmend im Meer der Stilisierung. Menschen mit nachvollziehbaren Gedanken, Gefühlen und Handlungen gibt es im Hotel „Zur schönen Aussicht“ nicht. Eine diffuse Endzeitstimmung scheint alle Bewohner in Zombies verwandelt zu haben. Die reiche Baronin Ada, deren Geld allein den maroden Hotelbetrieb aufrechterhält, ähnelt mit Holzbein und marionettenhaften Bewegungen am augenfälligsten einer Untoten. Ute Hannig spielt sie als irritierende Mischung aus zynischem Vamp und hilfloser Kriegsversehrter. Ihr Zwillingsbruder (Samuel Weiss), ein spielsüchtiger Schleimer im rosafarbenen Anzug, will von ihr dasselbe wie alle anderen: Geld. Aus diesem Grund ist auch Hotelbesitzer Strasser mit Ada zusammen, ein abgehalfterter Filmschauspieler (ziemlich unentschieden verkörpert von Filmschauspieler August Diehl). Weitere Bettgespielen sind Chauffeur Karl (Achim Buch) und Kellner Max (Bernd Moss); der erste offenbar ein brutaler Kriegsverbrecher, der zweite ein renitent-verträumter Nichtsnutz. Zu essen gibt es schon lange nichts mehr in diesem Hotel voller seelischer Wracks. Wie Tiere werfen sich alle auf die restlichen Salzstangen, dauerbetrunken vom Sekt, der in Strömen fließt.

Immer düsterer zeichnet Kušej das Bild der verkommenen Gesellschaft, die sich voller Überdruss gegenseitig betrügt und belügt in diesem zeit- und ortlosen Hotel irgendwo in Mitteleuropa, irgendwann zwischen zwei Kriegen. Bis alle im diffusen Halbdunkel auf den grauen Betonplatten liegen wie gestrandete Wale und an den grauen Betonplatten horchen und flüstern: Christine! Das Zauberwort beschreibt ihre große Hoffnung: Christine (Lavinia Wilson), eine verflossene Liebe des Hoteldirektors, die gekommen ist, um Strasser an sich zu binden, die aber alle an sich binden wollen, nachdem sie von ihrer stattlichen Erbschaft erfahren haben. Geld bleibt die einzige Hoffnung dieser gefühlstoten Zombies, und dafür machen sie sich alle – außer der Baronin, die es schlicht nicht nötig hat – zum Affen. Sektvertreter Müller (Klaus Rodewald), der vom Hotel Schulden eintreiben will, zieht sich gar nackt aus und spielt mit Handtuch über dem Kopf und Seidenkrawatten-Halsschlinge Folteropfer im irakischen Gefängnis. Geschmacklos? Ja. Aber es zeigt auch: Hier herrscht Dauerkrieg, selbst in so genannten Friedenszeiten.

Und es endet so unspektakulär, wie es spektakulär begonnen hat: Christine geht einfach weg aus diesem Irrenhaus. Dazu ertönen langsame Walzerklänge. Die Restauration kann beginnen.

nächste Vorstellungen: 23. + 25. 2., 20 Uhr, Schauspielhaus