Von Schuld und Unschuld

Der Deutsche Skiverband hat mehr zu tun, als sich über Medaillen zu freuen: Der aufmüpfige Skispringer Alexander Herr wird nach Hause geschickt, das Blutbild von Langläuferin Evi Sachenbacher-Stehle im Sinne der Athletin interpretiert

„Das Mädel und das Verbandsvorgehen stehen außer Frage“

AUS TURIN FRANK KETTERER

Der Präsident höchstpersönlich hatte den Weg herüber nach Cesana San Sicario gefunden, und natürlich hatte das etwas zu bedeuten, zumal Alfons Hörmann seinen Sportdirektor Thomas Pfüller im Schlepptau hatte. Die beiden hohen Herren vom Deutschen Ski-Verband (DSV) hätten leicht von der Silbermedaille reden können, die die deutsche Langlaufstaffel der Frauen am Vormittag gewonnen hatte, oder über Gold und Silber, das Kati Wilhelm und Michaela Glagow nur kurz zuvor im Biathlon hatten folgen lassen. Aber nun standen Hörmann und Pfüller da auf einem kleinen Schneehaufen, und ihre Mienen verrieten, dass sie nicht hierher gekommen waren, um über Medaillen zu reden, sondern zum Beispiel über Alexander Herr.

Der Skispringer aus Schonach im Schwarzwald war am Vorabend aus der deutschen Skisprung-Mannschaft und deren Quartier in Pragelato verbannt worden, weil er in den zurückliegenden Tagen gleich zweimal unangenehm auffällig geworden war: Bereits am Dienstag im Training war Herr mit einem zu weit geschneiderten und somit gegen die Regeln verstoßenden Anzug gesprungen, der ihm mehr Auftrieb und damit eine größere Weite ermöglicht hatte. Drei Tage später wiederum, nachdem er eine interne Ausscheidung gegen Martin Schmitt mit 108,5 zu 121,5 Metern verloren und infolge dessen von Bundestrainer Peter Rohwein nicht für die Olympiaentscheidung von der Großchance am Samstag nominiert worden war, stürzte der 27-Jährige auch noch verbal ab. Eine „absolute Lachnummer“ sei die Entscheidung des Bundestrainers pro Schmitt, schließlich sei er in diesem Winter stets weiter geflogen als der Konkurrent im eigenen Team, mit dem er sich hier ironischerweise auch noch das Zimmer teilte. Bei dem für Herrs Nichtnominierung entscheidenden Sprung wiederum habe „ein Blinder mit Krückstock“ sehen können, „dass keine fairen Bedingungen herrschten“. Da der Bundestrainer es so nicht gesehen hatte, stellten Herrs Worte die nächste Attacke dar. Der Rauswurf folgte da beinahe zwangsläufig.

„Er hat sich innerhalb der eigenen Mannschaft und mit seinen Aussagen über Peter Rohwein unsportlich verhalten“, stellte DSV-Präsident Hörmann auf seinem Schneehaufen jedenfalls fest. Vor allem die Sache mit dem zu großen Sprunganzug schien ihm auf der Seele zu brennen. „Er hat mehrfach gegen das Fairplay verstoßen. Ich hätte schon früher reagiert und ihn erst gar nicht für die Ausscheidung zugelassen“, befand der Präsident jedenfalls, weil: „Wer mit unlauteren Mitteln reagiert, hat seine Startberechtigung verloren.“ So sehr hat sich der Präsident darüber echauffiert, dass er selbst einen Rückzug der deutschen Equipe vom Teamwettbewerb in Kauf nehmen würde, sollte sich einer der übrig gebliebenen vier Springer verletzen. Hörmann: „Ja, wir würden auf einen möglichen Erfolg verzichten.“

Weiter ausmalen wollte der Präsident ein solches Szenario freilich nicht. Lieber verwies er auf die positiven Kräfte, die ein solcher Zoff auch auslösen könne – und damit auf die Frauenstaffel. „Die Silbermedaille zeigt, was passieren kann, wenn sich eine Mannschaft solidarisiert“, sprach Hörmann – und war damit angekommen bei Sorgenfall Nummer zwei der Deutschen hier in Turin, nämlich bei der Skilangläuferin Evi Sachenbacher-Stehle. Deren erhöhte Hämoglobinwerte und die damit verbundene Schutzsperre haben ja vom ersten Tag an für Aufregung gesorgt. Dass Hörmann und Pfüller nun dastanden und die Sache endgültig für beendet erklärten, zumindest für die restliche Dauer der Spiele, mag aus ihrer Sicht verständlich sein, zumal sich Sachenbacher-Stehles Dopingprobe mittlerweile als negativ erwiesen habe. „Insofern stehen das Mädel und das Verbandsvorgehen außer Frage“, diktierte Hörmann.

Aber ganz so einfach geht das nicht, und das nicht nur, weil die Süddeutsche Zeitung in ihrer Samstagsausgabe den Fall Sachenbacher-Stehle noch einmal en détail auf einer ganzen Zeitungsseite aufgedröselt hatte. Es ist keine gute Seite für Sachenbacher-Stehle und den DSV, weil es nach wie vor offene Fragen gibt, am meisten diese: Wie können Sachenbacher-Stehle und der DSV, dort allen voran Mannschaftsarzt Ernst Jakob, behaupten, die Athletin verfüge von Natur aus über einen erhöhten Hämoglobinwert und habe auch in der Vergangenheit schon über dem vom Internationalen Skiverband FIS festgelegten Grenzwert von 16 Gramm pro Deziliter gelegen, während FIS-Chefmediziner Bengt Saltin just dies bestreitet, weil ihm ganz andere Zahlen vorliegen, 50 in den letzten fünf Jahren? Die, wird Saltin zitiert, seien „so normal, wie es nur geht, gewesen“, was heißen soll: zwischen 14,0 und 15,6. Einen Wert von 16 aber habe sie nie gehabt. Genau aus diesem Grund hatte die FIS ja die vom DSV im August letzten Jahres beantragte Ausnahmegenehmigung für Sachenbacher-Stehle abgelehnt. Dass Mannschaftsarzt Jakob, der im Übrigen auch die Radprofis aus dem Hause Gerolsteiner medizinisch versorgt, in Turin nun eine Erhöhung der Grenzwerte gefordert hat, nur weil eine der von ihm betreuten Athletinnen erwischt worden war, kommt einer bösen Torpedierung der Anti-Doping-Bemühungen der FIS gleich. Schließlich gilt ein plötzlich erhöhter Hämoglobinwert unter anderem als Indiz für Blutdoping – und das ist per üblichen Dopingtest nach wie vor nicht feststellbar. So gesehen übertrieb auch Präsident Hörmann, als er behauptete, Sachenbacher-Stehle sei durch den negativen Ausgang ihres Dopingtests „sozusagen rehabilitiert“. Zumal der negative Befund bis gestern vom IOC nicht offiziell bestätigt worden war.

So verzwickt, wie sich die Lage anhört, freilich ist sie gar nicht. Sachenbacher-Stehle selbst und der DSV könnten schnell für Klarheit sorgen, sie müssten dafür nur die archivierten Werte aus der Vergangenheit offen legen. Dies könnte, sollten die Werte dauerhaft erhöht sein, als Beweis für ihre Version gewertet werden. „Mannschaftsarzt Jakob war dazu bisher nicht zu bewegen“, sagte Sportdirektor Pfüller am Samstag, schon wegen der ärztlichen Schweigepflicht. Woraus sich eine letzte Frage ergibt: Warum entbindet Evi Sachenbacher den Mannschaftsarzt nicht von dieser, wenn sie tatsächlich so unschuldig ist, wie alle Welt glauben gemacht wird?