Das Versagen der fetten Kater

OLYMPIABILANZ Russlands Sportler holten 15 Medaillen in Vancouver, so wenige wie nie zuvor. Die Funktionäre stehen unter Druck, Ideen fehlen. Die Angst, sich bei den Spielen 2014 in Sotschi zu blamieren, wächst

„Viele Vorsitzende führen die Verbände wie ihr eigenes Familienunternehmen“

IRINA RODNINA, RUSSISCHE EISKUNSTLAUFHEROIN

MOSKAU taz | Die Versammlung der Stadtverordneten im sibirischen Tomsk begann letzte Wochen mit einer Schweigeminute. In der Nacht zuvor war – für alle unfassbar – eine große Hoffnung gestorben. Russlands Hockey-Team hatte im olympischen Viertelfinale mit 3:7 gegen Kanada verloren.

Der Schock sitzt tief. Die Hockeyniederlage war nur eine weitere Schmach für die einst glorreiche Wintersportnation, die in Vancouver das schlechteste Olympia-Ergebnis aller Zeiten einfuhr. Russlands Öffentlichkeit schäumt und auch die politische Führung verlangt Konsequenzen. Um weiterem Unmut vorzubauen, forderte Präsident Dimitri Medwedjew die leitenden Sportfunktionäre („fette Kater“) noch in Vancouver zum Rücktritt auf. Wenn sie es nicht von alleine könnten, würde man auch nachhelfen, meinte der Kremlchef. Der Präsident des russischen NOK, Leonid Tjagaschew, ist nach kurzem Zögern inzwischen abgetreten. Sportminister Witali Mutko indes lässt sich Zeit. Natürlich könne er das Amt niederlegen. Doch, fragte er kokett, würden die Skier danach besser laufen?

Russische Experten und ehemalige Spitzensportler bezweifeln, dass eine Auswechslung des Führungspersonals bessere Leistungen garantiert. Das System müsse verändert werden, sagte die ehemalige Eiskunstläuferin und dreifache Olympiasiegerin Irina Rodnina. „Viele Vorsitzende führen die Verbände wie ihr eigenes Familienunternehmen. Sie fahren zu kommerziellen Turnieren, um Geld einzusammeln.“ Dabei greifen sie nur auf loyale Kader aus den eigenen Reihen zurück. Eine Auswahl der Besten finde nicht mehr statt. Bestürzt nahm Russland zur Kenntnis, dass Athleten in Vancouver für andere Staaten Medaillen gewannen, die es nicht ins russische Aufgebot geschafft hatten. Statt die Sportler zu fördern, so Rodnina, würden die Funktionäre Ehefrauen und Geliebte auf Verbandskosten mit auf Reisen nehmen. „Sie haben jegliche Angst vor Konsequenzen verloren.“

Das Desinteresse der Offiziellen an nachhaltigem Erfolg lässt sich auch an der Auswahl der Trainer ablesen. Die Besten wanderten in den 90er-Jahren ins Ausland ab. Russland hatte damals kein Geld, wenig Interesse und konnte noch vom Polster des Sowjetsports zehren. Seit die Kassen wieder voll sind, wurde jedoch nichts unternommen, um Spitzentrainer zurückzuholen. Marina Sujewa, die den Kanadiern als Eiskunstlaufcoach Gold und den USA Silber bescherte, sei nie gefragt worden, meinte sie.

Die Versäumnisse im Sport sind keine Ausnahme. Die Unfähigkeit der Bürokratie, dem Land neue Perspektiven zu öffnen – ihr Desinteresse gar –, zeigen sich in allen gesellschaftlichen Bereichen. Zu Hause lassen sich schlechte Leistungen durch Zensur kaschieren, auf der internationalen Ebene gelingt dies nicht. Plötzlich steht der König nackt da. Das Eigenleben von Staat und Gesellschaft führt überdies zum Realitätsverlust. Mindestens 30 Medaillen versprach das NOK dem Kreml, 15 waren es am Ende. Wolfgang Steiert, deutscher Trainer der russischen Skispringer, schloss von vornherein eine Medaille aus. Dennoch versprach der Verband dem Kreml einmal Bronze. Steiert wurde noch während der Spiele entlassen.

Die Aussichten für die Olympischen Spiele 2014 sehen nicht rosig aus. Wladimir Putins Projekt, „Sotschi 2014“ zum leuchtenden Symbol einer wiedergeborenen „russischen Idee“ zu erheben, nimmt langsam utopische Züge an. Wohl deshalb drohte die Kremlpartei Vereinigtes Russland, die Kontrolle über die Vorbereitungen zu übernehmen. Kommt es so weit, wäre das Fiasko gewiss. KLAUS-HELGE DONATH