Im Würgegriff der Wellnessesser

Gesund und Genuss – die neue Propaganda-Paarung aus dem Haus Dumm in irrsinniger Kostümierung

Zwei kreuzgefährliche Typen gibt es, die unsere kleine, nahezu wehrlose Welt immer mehr in den Würgegriff zwingen: der auf Teufel komm raus gesund sein Wollende und der zwanghafte Genießer. Die wohlbekannten biblischen sind nichts gegen diese beiden modernen Plagen, denn so richtig darauf vorbereitet war niemand.

Begonnen hat die unselige Gesundheitsapostelgeschichte höchstwahrscheinlich, als den ersten asensorischen Sensibelchen die Idee gekommen ist, ihr Essen und ihr sonstiges freuderesistentes Tun sollten fortan „gesund“ sein. Das ist zwar nicht neu, doch nehmen Ausstattung und Kostümierung immer irrsinnigere Ausmaße an.

Für uns, die wir mehr am ganz gewöhnlichen Leben als am Ausleben hängen, gibt es bislang kein Entrinnen vor dieser ubiquitären Diktatur der Lightkulturträger: elefantöse Ballaststoffrationen, homöopathische Kohlehydratzufuhren, appetitabregende Süßstoffe aus Bodenhaltung, Fette und Eiweiße nur in schriftlicher Form. Damit die Geschmacksknospen endgültig nach innen wachsen.

Da tummeln sich fundamentalistische Margarinefrühstücker in Stahlpfannengewittern als Hobbyköche um den eigenen Krisenherd, bis sie statt Luft nur noch Umluft schnappen können. Familiär ungebundene Singles verabscheuen gebundene Saucen. Rucola-statt-Rauke-Rabauken, die möglichst alt werden möchten, nicht jedoch in Würde älter werden können, gaffen täglich in den Cholesterinspiegel und röhren erwartungsvoll hinein: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die/der Gesündeste im ganzen Land?“

Jede zweite Dorfschenke gesündelt ihre Essensreste vom Vortag zu hippem Wellnessfood hoch. Jawohl, die nicht zu ignorierende Volksgesundheitsküche derer, die nirgends sonst als im Kaffee-Ersatz lesen, ist leider nur mit angeschlossenem Nervensägewerk lieferbar, denn aus „Du darfst“ haben sie längst „Du darfst nicht mehr anders“ gemacht. Nur in einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist – im aktuellen Programm „Gesund durch Wellness“ (ARD).

Je gröber und abgedrehter der Dünkelfraß, desto gewaltbereiter der Werbeaufwand, es den Leuten im wahrsten Sinn des Wortes schmackhaft zu machen. Ganz hinterlistig haben sich zum Beispiel die Fidel Gastros des Genießerwahns in die Medien eingeschlichen. Denn noch immer heißt es: Von Syntax, Lexik, Diktion und der Welt keinen Schimmer? Geht zur Zeitung! Sogar beim Bierholen für den Chefredakteur verlaufen? Dann lasst sie eben Gastrokritiken schreiben! Prima, da pfuscht den Genussgenossen keiner rein, und am Ende glauben sie selber, sie hätten was zu melden und könnten es auch ausdrücken. In ihrem Übermut gründen die Löffelverbieger dann schließlich ihre eigene Zentralorgane, ganze Zeitschriften, die den Genießerwahn weiter zu verbreiten helfen.

Die Deutschen, denen aus gutem Grund seit eh und je die Lebensfreude abgesprochen wird, neigen dann zur Übersprungshandlung und müssen gleich Genussweltmeister werden. Nach längst langweilig gewordenen Krankheitsbildern wie Putz-, Wasch- und Spaßzwang eitern sie jetzt mühselig den Genusszwang aus. „Genuss pur!“ lautet der neue Imperativ der an die Mächte der Finsternis Verlorenen, die Biolek für ein naturbelassenes Lebensmittel halten, Wickert für einen Franzosen oder Sarah Kuttner für eine kluge, witzige Frau.

Mehdorns Modelleisenbahner nennen es „Genießer reisen“ und locken ahnungslose Kunden in einen polytoxischen Hinterhalt. Die Resterampenkette plus („prima leben und sparen“) schickt für ihre Kampagne „Viva Vital. Essen & trinken mit Genuss & Verstand“ den Fachmann Kai Pflaume an die Front für „zeitgemäß[es] essen im Büro … Viva Vital macht schlemmen noch leichter!“

All dies ist Unzucht mit Abhängigen unter Verwendung des altbewährten Das-gelingt-immer-Ramschs aus „würzigem Käse mit wertvollem Eiweiß“, „magerem Schinken“, „hochwertigem Fleisch“ und anderen „Vitalstoffen“. Kaffeefahrtenwerbung ist hohe und kluge Poesie dagegen.

Ich frage Sie: Wo bleiben die kühnen und tapferen Alliierten, die uns helfen, der fluchbeladenen Achse Putenwurst-Latte-Macchiato-Sushi das Plastikbesteck endgültig um den Hals zu flechten? MICHAEL RUDOLF