Die Geschichte wird umgeschrieben

Statt im Projekt „Geschichtswerkstatt“ Biografien von Senioren aufzuschreiben, sollen 50 1-Euro-Jobber Senioren betreuen. Jobcenter prüft Kritik

In Kreuzberg gibt es massive Kritik an einem Projekt für 1-Euro-Jobber. Seit September arbeiten in der Maßnahme „Geschichtswerkstatt“ 50 arbeitslose Geisteswissenschaftler, Redakteure und Fotografen. Sie sollen neun Monate lang „Biografien von Senioren und Migranten mit historischer Relevanz festhalten“, so der Auftrag.

Passiert ist bisher nicht viel: „Konkret ist in fünf Monaten von den 50 MitarbeiterInnen gerade ein Flyer fertig gestellt worden“, sagt Anna Bergmann*, eine der Teilnehmerinnen. Das Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg hatte im August 2005 zusätzlich zur Bezahlung der Teilnehmer eine Kostenpauschale von insgesamt bis zu 112.500 Euro bewilligt. Grund für die wenigen Ergebnisse des Projekts sei unter anderem, „dass alle unsere Planungen ohne Begründung verworfen wurden“, so Bergmann. Zudem seien „erst zehn Wochen nach Beginn des Projekts ausreichend Computer und Drucker“ installiert worden – allerdings mit „völlig veralteter Software“, erinnert sich der Geisteswissenschaftler Boris Talheimer *.

Nach und nach sei die geplante Veröffentlichung der Ergebnisse immer mehr aus dem Blickfeld geraten, ebenso wie die gesetzlich vorgeschriebenen Qualifizierungen. Letztlich sollte auch der Inhalt des Projekts in Richtung „Betreuung von Senioren“ verschoben werden. Nicht einmal die Bezahlung habe funktioniert. Die Mehraufwandsentschädigung sei verzögert ausgezahlt worden, so Bergmann.

Mehrfach hätten sich einzelne TeilnehmerInnen beim Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg beschwert. „Doch als nichts passierte“, erzählt Anna Bergmann, „entschlossen wir uns, die Hierarchie von oben aufzurollen.“ Sechs von ihnen schrieben Anfang Januar einen Brief an den Bundesminister für Arbeit und Soziales, Franz Müntefering (SPD), kurz darauf auch noch an die Stadträte des Bezirks. Darin beschwerten sie sich über den Verein Yopic, den Träger der Maßnahme.

Geleitet wird der Verein von Doris Habermann, die unter derselben Telefonnummer auch die Weiterbildungs- und Beratungsfirma Kombi Consult GmbH betreibt. Auf Anfrage der taz zeigte Habermann sogar Verständnis für die TeilnehmerInnen. „Da sind einige dabei, die haben sogar promoviert und sind nun arbeitslos. Das frustriert natürlich“, sagt sie.

Laut Habermann hätten die Teilnehmer allerdings Sinn und Ziel der Maßnahme falsch verstanden. „Idee dieses Projekts ist, mit älteren Menschen einfache Gespräche zu führen, sie aus ihrem Leben erzählen zu lassen und damit eine soziale Beziehung aufzubauen.“ Netterweise könne man auch mal was für sie einkaufen. „Die kleine Broschüre ist dabei nur als Beiprodukt angedacht“, sagt Habermann. Was dies mit einer „Geschichtswerkstatt“ zu tun hat, bleibt ihr Geheimnis.

Inzwischen ist eine Mitarbeiterin des Jobcenters mit dem Fall befasst. Sie hat etliche TeilnehmerInnen zu Einzelgesprächen vorgeladen. In den kommenden Tagen will nun die Geschäftsführung des Centers entscheiden, wie es weitergeht.

Doch die Geschichte hat schon jetzt ein Nachspiel – für die Unterzeichner der Beschwerdebriefe an die Bezirksstadträte. Habermann lud sie – und nur sie – zu einem Gespräch und verwarnte sie. Woher sie die Namen der Unterzeichner hatte, wollte sie der taz nicht verraten. Inzwischen haben die Unterzeichner bei Bezirksbürgermeisterin Cornelia Reinauer (Linkspartei) Dienstaufsichtsbeschwerde gegen einen ihrer Bezirksstadträte eingelegt. Sie glauben, dass er die Namen weitergegeben hat.

Genau diese Geheimnisse interessieren nun Bernd Wagner, für den Erwerbslosenausschuss der Gewerkschaft Ver.di Mitglied im Beirat des Jobcenters. Von der Geschäftsführung verlangt er Auskunft auf 21 Fragen zu diesem Fall. Besonders die möglichen Verbindungen zwischen Maßnahmeträgern, Mitarbeitern des Jobcenters und der Politik interessieren ihn. Das Jobcenter will die Fragen auf einer außerordentlichen Sitzung des Beirats am 1. März beantworten.

CHRISTOPH VILLINGER

* Name geändert